Schöner lernen im getrennten Miteinander?

An der Limburger Marienschule arbeiten Jungen und Mädchen nur in ausgewählten Fächern gemeinsam.
Au den ersten Blick geht es in der Marienschule Limburg zu wie in einem gewöhnlichen, hessischen Gymnasium. Ein Dienstagmorgen, 08:07 Uhr: Hölzerne Bänke, an denen zwei Schülerinnen sitzen und sich über ein iPad beugen. Ein Lehrer kommt mit einem Fahrrad an. Der Hausmeister trägt etwas über den Schulhof. Die Sonne scheint und lässt die roten Lettern „Marienschule“ am Gebäude vielleicht noch etwas kräftiger leuchten.
Es ist ein ruhiger, normaler Morgen in einer außergewöhnlichen Schule. Denn die Marienschule unterscheidet etwas Grundsätzliches von anderen hessischen Gymnasien, nämlich wie in den Klassenräumen unterrichtet wird: In der Marienschule Limburg wird das pädagogische Modell der Parallelen Monoedukation verfolgt. Als Parallele Monoedukation bezeichnet man das schulische Konzept des geschlechtergetrennten Unterrichts in der Sekundarstufe I. Dabei werden reine Mädchen- und reine Jungenklassen gemeinsam an einer Schule unterrichtet.
Gegründet als reine Mädchenschule
Die staatlich anerkannte private Marienschule, die im Jahr 1895 von den Armen Dienstmägden Jesu Christi als eine reine Mädchenschule gegründet wurde, entschied sich im Jahrgang 2011/2012, die Tore auch für Jungen zu öffnen: Neben vier reinen Mädchenklassen wurde auch eine Jungenklasse eingeschult. Durch diese Entwicklung gehört die Marienschule zu einer von drei deutschen Schulen, die die Schullaufbahn nach dem Motto „Getrenntes Miteinander“ gestalten.
Das Konzept ist ein lebhaft diskutiertes Thema: Befürworter argumentieren, dass das Fächer- und Berufwahlspektrum erweitert werde, indem Geschlechterstereotype aufgebrochen werden und den Schülern und Schülerinnen die Möglichkeit geboten werde, ihre individuellen Interessen und Talente unabhängig von traditionellen Vorurteilen zu erkunden. So könnten Mädchen stärker in den MINT-Fächern und in einer geschlechtergerechten Berufswahl gefördert werden, während Jungs sich freier in musischen Fächern ausleben könnten. Dadurch entstünden Freiräume für die persönliche Entwicklung, aber auch Schon- und Schutzräume in Fächern wie Biologie und Sport. Studien zeigen, dass bei der Monoedukation das Selbstwertgefühl und -vertrauen der Mädchen gestärkt wird und die gesamte Leistung der Schule steigt.
Kritiker hingegen sind der Meinung, dass durch die Trennung wieder das Schubladendenken aktiviert werde. Wenn Mädchen stärker in Fächern wie Mathematik gefördert würden, werde der Gedanke geweckt, dass alle Mädchen schlecht in Mathe seien. So werde leistungsstarken Schülerinnen die Stärke indirekt abgesprochen. Außerdem würden vor allem Mädchen von diesem Konzept profitieren. Wenn Mädchen stärker in MINT-Fächer gefördert würden, würden Jungs benachteiligt. Ein anderes Argument ist, dass Schüler sozial nicht auf eine gemischtgeschlechtliche Gesellschaft vorbereitet würden.
Diese Vor- und Nachteile werden auch von vielen Schüler:innen gesehen. Warum haben sie sich dafür entschieden, auf die Marienschule zu gehen? Lilly Ludwig aus der Jahrgangsstufe 9 erinnert sich an die Anfangszeit: „Früher fand ich es toll, weil ich den Gedanken, nur mit Mädchen in einer Klasse zu sein, schön fand. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass durch diese Trennung viel Drama und stereotypisches Denken vermieden werden kann. Allerdings bemerke ich auch, dass es mir schwer fällt, mit Jungs zu kommunizieren. Durch die Trennung sind es quasi andere Wesen.“ Lena Erler stimmt dem nicht zu: „Ich mag die Trennung. Es ist gut, in einem behüteten Umfeld lernen zu können. Ohne Angst ausgelacht zu werden. Vor allem in Fächern wie Biologie oder Sport ist das super.“ Felicita Nagel aus der fünften Jahrgangsstufe ist mit eine der Jüngsten an der Schule. Sie mag das Konzept: „Ich bin erst seit paar Monaten auf dieser Schule, aber es gefällt mir. Ich verstehe mich richtig gut mit den Mädchen, und ich mag es, meine eigene Clique zu haben.“ Auch Simon Breuer aus der 9 f erinnert sich an die Zeit in der 5. Klasse zurück: „Die Entscheidung, auf die Marienschule zu gehen, habe ich getroffen, weil mich der Tag der offenen Tür überzeugt hat, und ich das Gefühl hatte, hier richtig zu sein - was sich auch bewahrheitet hat. Die Parallele Monoedukation finde ich persönlich aber eher hinderlich als hilfreich, da die Einstellung, dass Mädchen und Jungen getrennt unterrichtet werden müssen, damit sie am besten lernen, aus meiner Sicht überholt ist. Die Koedukation in Kursen wie Französisch, Spanisch und Religion - oder der Bläserklasse in der 5. und 6. Klasse - funktioniert ja bereits sehr gut und bestätigt mich, dass es sogar viel ruhiger ist und eine bessere Lernatmosphäre herrscht, wenn Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet werden.“
Im Jahr 2018 wurde zudem eine Evaluation unter Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften durchgeführt, um ein umfassendes Bild von den Meinungen und Stimmungen innerhalb der Schulgemeinde zu erhalten: Etwa 39 Prozent der Eltern von Jungen stimmten der Aussage zu, dass die Monoedukation die persönliche Entwicklung ihres Kindes fördert, während sogar 43 Prozent der Eltern von Mädchen dieser Aussage voll und ganz zustimmten. Die Frage, ob das Kind an der Marienschule erfolgreich lernen könne, erhielt ebenfalls positive Rückmeldungen. 50 Prozent der Eltern von Mädchen stimmten mit „Trifft voll zu“ überein, während 67 Prozent der Eltern von Jungen angaben, dass dies „Eher zutrifft“.
Die Bewertungen waren jedoch gemischter, wenn es um die Förderung eines respektvollen Umgangs unter den Schülerinnen und Schülern ging: Während 26 Prozent der Eltern von Mädchen angaben, dass dies voll und ganz zutrifft, äußerten fast 20 Prozent die Auffassung, dass dies eher nicht der Fall sei. Bei den Eltern von Jungen waren es 39 Prozent, die angaben, dass dies eher nicht der Fall sei. Aber auch freie Kommentare wurden in die Evaluation aufgenommen: Acht Personen gaben an, dass sie die Schule bewusst aufgrund der Monoedukation gewählt haben, drei Personen äußerten sogar den Wunsch nach einer reinen Mädchenschule.
Konzept immer weiterentwickeln
Und was sagt die Schulleiterin Henrike Zilling dazu? Ich sitze während der Mittagspause in ihrem Büro. Aus dem Raum im zweiten Stock hat man einen guten Ausblick auf die Jugendlichen, die das Schulgelände verlassen und zu ihren Bushaltestellen gehen. Vor 20 Jahren schien solch ein Anblick noch undenkbar. Die Schulgemeinde stand damals vor der Aufgabe, den Schulalltag sowohl für Mädchen als auch für die neu angekommenen Jungen angenehm und reibungslos zu gestalten. Heute strömen Jungs und Mädchen ungestört von diesen alten Sorgen lachend und quatschend aus dem Schulhaus. Das letzte Mal saß ich als 10-Jährige zum Aufnahmegespräch auf diesem blau gepolsterten Stuhl.
„Alle an der Schulentwicklung Beteiligten arbeiten daran, das praktizierte Konzept der Parallelen Monoedukation - des getrennten Miteinanders von Mädchen- und Jungenklassen in der Sekundarstufe I - weiterzuentwickeln. Eine Frage der Zukunft ist beispielsweise, wie wir noch mehr Begegnungsräume schaffen können“, berichtet die Schulleiterin. „Mit Wettbewerben wie ,Chemie mach mit‘ oder der Matheolympiade wollen wir das Interesse von Schülerinnen und Schülern an Fächern wie Mathematik, Informatik, Technik und den Naturwissenschaften steigern.“ Und dieses Vorhaben scheint Wirkung zu zeigen: Die Website der Marienschule wird von aktuellen Nachrichten über Erfolge bei Mathematik- und Chemiewettbewerben geschmückt: Einzug in die nächste Runde hier, erster Platz der Altersstufe da.
„Außerdem wollen wir mit unserer Robotik-AG ,Roberta und ihre Freunde‘ besonders Schülerinnen und Mädchen schon ab der fünften Klasse spielerisch an das Thema Technik heranführen, ganz nach der Hands-on-Methode“, sagt Zilling. Bei der Hands-on-Methode lernen Schülerinnen und Schüler praxisorientiert, indem sie ihre „Robertas und Freunde“ alleine zusammenbauen und programmieren.
Gibt es Unterschiede im Lehrplan bei den Mädchen- und Jungenklassen? „Nein, es wird nach dem gemeinsamen Schulcurriculum unterrichtet. Die Lehrkraft kann bei Einzelheiten wie beispielsweise der Lektüre im Deutschunterricht entscheiden, was gelesen wird, doch abgesehen davon lernen Mädchen und Jungs bei uns gleich. Mit Fahrten, wie etwa die Klassenfahrt in der 5. Klasse nach Lauterbach, aber auch mit koedukativ unterrichteten Wahlpflichtfächern, Arbeitsgemeinschaften und Kursen in der Oberstufe wollen wir die Kinder auf die Herausforderungen des zukünftigen Lebens in einer gemischtgeschlechtlichen Gesellschaft vorbereiten.“
Und welche Vision haben Sie für die Zukunft der Marienschule, Frau Dr. Zilling? „Es ist mir wichtig, dass sich sowohl Mädchen als auch Jungen frei entfalten können. Wir wollen den natürlichen Umgang zwischen den Geschlechtern fördern und Stereotype abbauen und ich hoffe, dass uns das in der Marienschule gelingt.“