Bremthal: Wer frei sein will, muss auch Regeln einhalten

Ex-Bundestagschef Norbert Lammert referiert.
Bremthal. Norbert Lammert ist 1964 in die Junge Union eingetreten. Wenn jemand fast 60 Jahre Politik macht und wie er nicht zu den oberflächlichen Menschen gehört, dann hat er sich immer wieder einmal Gedanken gemacht über die grundlegenden Fragen. Das hat sich auch die evangelische Emmausgemeinde gedacht, als sie den früheren Bundestagspräsidenten in ihrer Reihe „Über Gott und die Welt“ zu einem Vortrag einlud unter der Überschrift: „Was kostet uns die Freiheit?“
Und wenn so viel politische Erfahrung zusammenkommt, dann ist es etwas kokettierend von Lammert, zu sagen, er könne keine endgültigen Antworten geben. Was aber auch stimmt, weil es solche endgültigen Antworten nicht geben kann, sondern sie unter anderem von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhängen. Lammert gehörte von 1980 bis 2017 dem Deutschen Bundestag an, war von 2005 bis 2017 Präsident des Bundestages. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Natürlich kann einer wie der erfahrene CDU-Politiker trotzdem schon allerlei hilfreiche Hinweise geben. So zitierte er den auf den Tag genau vor 400 Jahren verkündeten Augsburger Religionsfrieden. Der sorgte zwar für friedliche Verhältnisse, schränkte aber die Religionsfreiheit ein - die Menschen hatten sich nach der Religion des Landesherrn zu richten. Lammert: „Die Untertanen hatten die Freiheit auszuwandern.“ Schlussfolgerung: Die Freiheit wurde eingeschränkt, um den Frieden herzustellen.
Eine historische Besonderheit ist das für Lammert nicht. Niemand könne sicher sein, im Besitz der politischen Wahrheit zu sein. Jeder müsse daher die Freiheit haben, für das einzutreten, was er für richtig halte. Der Konflikt sei somit der gesellschaftliche Normalzustand. Für seine Austragung müsse es daher Regeln geben. „Die Freiheit der Gesellschaft steht und fällt mit der Bereitschaft, Regeln einzuhalten“, so Lammert.
Systeme „kollabieren“ durch Wahlen
Freiheit steht also gelegentlich nicht nur in Konkurrenz zu anderen zentralen Werten wie dem Frieden; auch Gerechtigkeit wäre übrigens ein solcher Wert. Und sie ist nicht endlos, sondern begrenzt von den Regeln zur Konfliktaustragung. Wobei zu Lammerts Ausführungen zu ergänzen wäre, dass die Politik längst nicht immer darin besteht, aus Sicht des Gemeinwesens die wahre, also richtige Linie umzusetzen. Sondern dass es auch um die Vertretung von Einzel- und Gruppeninteressen geht. Was aber auch regelkonform passieren muss.
Diese Überlegungen haben sehr aktuelle Bezüge. Die Neigung habe zugenommen, die eigene Meinung für einzig Mögliche zu halten, sagte Lammert. Daraus werde das Recht abgeleitet, sich notfalls nicht an die Regeln halten zu müssen. Leicht konnte der Besucher auf die Idee kommen, damit seien die Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ angesprochen. Lammert sprach diese aber nicht an, sondern den Rechtspopulismus. „Politische Systeme kollabieren heute durch Wahlen“, stellte er fest. Populistische Parteien kämen auf diesem Weg völlig legal zu Macht, um dann aber die politischen Regeln zu ändern, die diese Systeme ausmachten.
Das Grundgesetz räume in einem solchen Fall sogar das Recht zum Widerstand ein, weiß Lammert. Aber da fängt der Spaß politisch-theoretisch ja erst an: Wann ist ein solcher Fall eingetreten? Wer entscheidet darüber? Und welche Regelübertretungen sind erlaubt, um die Einhaltung der Regeln zu sichern?
Interessante Aussage zum Bundeskanzler
Lammert machte die Ankündigung wahr, sein Publikum mit vielen offenen Fragen nach Hause zu schicken. Viele dürften allerdings auch über eine Bemerkung nachgedacht haben, die mit dem Thema Freiheit so viel nicht zu tun hat, aber schon überraschend daher kam. Bundeskanzler Olaf Scholz nämlich habe - gerade, weil er als führungsschwach wahrgenommen werde - bessere Chancen auf eine Wiederwahl, als weithin angenommen werde. Ob das nicht kollidiert mit auch von Lammert zitierten, demoskopischen Ergebnissen, mehr Menschen als früher wünschen sich eine starke Führung und würden sich gar in diktatorischen Verhältnissen einzurichten wissen?