Vockenhausen: Der 3. Juni 1983: ein dunkler Tag in der Burgstadt

Amoklauf an der Freiherr-vom-Stein-Schule jährt sich heute zum 40. Mal
Vockenhausen. Es war ein wolkiger Freitagvormittag: Um 10.45 Uhr betritt Karel Charva - bewaffnet mit zwei Pistolen - den Saal 213 der Freiherr-vom-Stein-Schule (FvSS). Dort hat die Klasse 6 a gerade Englischunterricht bei Lehrer Franz-Adolf Gehlhaar. Der Amokläufer eröffnet sofort das Feuer. Gehlhaar stellt sich noch schützend vor seine Schüler, wird dabei aber von acht Kugeln getroffen und geht zu Boden. Er überlebt schwer verletzt.
Wahllos feuert der 34 Jahre alte Charva weiter auf die in eine Ecke des Klassenzimmers geflüchteten Schüler. Der aus dem gegenüberliegenden Saal stürmende Schulleiter Hans-Peter Schmitt (35) wird noch in der geöffneten Tür erschossen. Ein Teil der Schüler schafft es tatsächlich, aus dem Raum zu flüchten.
Zufällig sind an diesem Tag auch Beamte der Schutzpolizei zur Verkehrserziehung an Ort und Stelle. Alarmiert durch die Schüsse, eilen sie vom Pausenhof ins Schulgebäude. Einer von ihnen - Polizeihauptwachtmeister Gisbert Beck (43) - versperrt dem Amokläufer den Weg. „Waffe weg! Polizei!“, ruft Beck, doch der Beamte trägt keine Dienstwaffe und wird tödlich getroffen. Seinem Kollegen gelingt es, Verstärkung anzufordern.
Als der erste Streifenwagen an der Eppsteiner Gesamtschule eintrifft, nimmt Charva die Besatzung sofort und ohne Vorwarnung unter Beschuss. Dann kehrt er ins Klassenzimmer 213 zurück und legt sich dort auf den Boden. Hinter einem Tisch nähern sich ein Feuerwehrmann und ein Polizist vorsichtig dem Raum. Noch im Flur werden sie beschossen. Es kommt zu einem Feuergefecht. Dabei gibt der Polizist vier Schüsse auf den Täter ab. Über Lautsprecher werden die übrigen Schüler und Lehrer aufgefordert, sich in ihren Räumen zu verbarrikadieren. Kurz darauf ist an diesem 3. Juni nur noch ein einzelner Schuss zu hören. Der Täter hatte die Waffe gegen sich selbst gerichtet.
Bei dem Amoklauf vor 40 Jahren kamen neben dem damaligen Schulleiter und dem Polizeibeamten auch noch drei Schüler der Klasse 6 a - Stefanie Herrmann (12), Javier Martinez (11) und Gabriele Siebert (12) - ums Leben. Weitere 14 Menschen, unter ihnen 8 Kinder, wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Die Beweggründe für die Tat konnten bis zum heutigen Tag nicht ermittelt werden. Eine Verbindung zwischen Schule und Täter wurde nie gefunden. Längst sind die Schüler von damals nicht mehr an der Schule und auch die Lehrer von 1983 mittlerweile alle im Ruhestand. Die Erinnerung jedoch ist bis heute geblieben.
Schule pflanzt Kuchenbaum
Dabei steht an der FvSS nicht ausschließlich der Amoklauf im Vordergrund. Jedes Jahr werden im Religions- und Ethikunterricht die Themen „Gedenken“ und „Erinnerungskultur“ mit den Schülern behandelt. Auch im Geschichtsunterricht wird im Zusammenhang mit dem Holocaust darüber gesprochen. „Wir stellen unsere Geschichte nicht in den Fokus, sondern eher die Gedenk- und Präventionsarbeit allgemein“, sagt Schulleiter Christoph Krüger. Aufgrund des traurigen Jubiläums habe sich die Schule in diesem Jahr aber für eine größere Aktion entschieden. Bereits gestern hatte sich die Schulgemeinschaft zu einer geschlossenen Gedenkfeier in der Aula versammelt.
Durch die ganze Aktion hindurch zieht sich das Bild des Baumes. „Unsere Schule wurde im Herzen getroffen“, so die Rektorin und Mitorganisatorin Doris Sprung. Im Herzen, dem Innenhof, soll deshalb ein nach Zimt duftender Kuchenbaum gepflanzt werden. „Auf diese Weise bleiben die ehemaligen und aktuellen Schüler sowie die Opfer der Tat mit unserer Schule verwurzelt“, fügt Sprung hinzu. Dazu kommt, dass der Hof demnächst neu gestaltet werden soll. Der Baum symbolisiert also gleichzeitig auch etwas Neues. Ergänzt wird die Baumpflanzung von einem Kunstprojekt. Gemeinsam mit seinen Schülern hat Kunstlehrer Frank Burhenne einen Baum aus alten Holzpaletten gebastelt. Damit dieser auch Blätter trägt, können die Schüler ihre Gedanken und Emotionen rund um den 3. Juni 1983 aufschreiben und dann an den Baum hängen. Bis zum Sommer soll das Kunstprojekt noch in der Schulaula stehen bleiben.
Ob ein Amoklauf heute eher möglich sei als früher, könne Krüger nur schwer sagen. Um auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, gebe es spezielle Schutzkonzepte, erklärt er. Dennoch bestimme das Thema nicht den Alltag an der FvSS, merkt der Schulleiter an. „Die Schüler kommen nicht mit Bauchschmerzen in den Unterricht, sondern gehen gerne zur Schule“, betont Sprung.
Auch Bürgermeister Alexander Simon formulierte seine Anteilnahme: „Der 3. Juni 1983 ist ein trauriger und dunkler Tag in der Geschichte unserer Stadt. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und den Familien.“ In ihrer Sitzung zuletzt hatten die Stadtverordneten den Opfern bereits mit einer Schweigeminute gedacht. Die Stadt hat mit den Kirchengemeinden ein Stadtgeläut vereinbart. Heute um 11 Uhr läuten in ganz Eppstein die Kirchenglocken. phf

