1. Startseite
  2. Region
  3. Main-Taunus
  4. Flörsheim

Flörsheim: „Manche lassen den Frust hier ab“

Erstellt:

Kommentare

Apothekerin Simone Tschugg macht gute Miene zum bösen Spiel: So viele Lieferengpässe seit einigen Monaten für über 120 Medikamente hatte sie noch nie erlebt.
Apothekerin Simone Tschugg macht gute Miene zum bösen Spiel: So viele Lieferengpässe seit einigen Monaten für über 120 Medikamente hatte sie noch nie erlebt. © Kröner

Medikamente: Was die „Hauptursache des Übels“ für die zunehmenden Lieferengpässe ist.

Flörsheim -Apothekerin Simone Tschugg hat Medikamente immer so bestellt, dass ihre Vorräte für einen Monat reichen. Eine solche Voraussicht ist aber schon länger nicht mehr möglich. Wenn Kunden in der Bahnhofsapotheke ein Rezept vorlegen, muss die Inhaberin mittlerweile Alternativen finden. Denn in Medikamentenschränken der Bahnhofsapotheke fehlen rund 120 Positionen. Es gebe eine lange Liste von dringend benötigten Arzneimitteln, berichtet die Apothekerin. Solche Lieferengpässe habe sie in ihrer 22-jährigen Berufslaufbahn noch nicht erlebt.

Schmerzmittel, Hustensaft, und sogar Blutdruckmittel kommen nicht mehr nach. Die bundesweite Online-Datenbank Pharmanet-Bund.de hat 473 Lieferengpässe für Medikamente aufgelistet. „Ibuprofensäfte hamstern wir“, erläutert Simone Tschugg. Bei ihren Lieferanten schlage sie zu, sobald es etwas gibt. Doch auch damit lässt sich der grundsätzliche Mangel nicht einfach beheben. Momentan gebe es kein Penicillin - weder als Saft, noch in Tablettenform. Von Lieferanten sei sie auf den August vertröstet worden, berichtet Simone Tschugg. Für Patienten, die dringend auf ein Medikament angewiesen sind, finde sich zwar eine Lösung. „Irgendetwas kriegt man immer“, sagt die Flörsheimerin. Es sei aber blöd, wenn man Kunden immer wieder eine andere Packung in die Hand drücken müsse. Im Falle von Antibiotika könne es außerdem vorkommen, dass die erhältlichen Tabletten zu hoch dosiert sind, um sie Kindern zu verabreichen.

Was also tun? Sie telefoniere viel rum, um vielleicht doch noch an Arzneimittel zu kommen, berichtet Simone Tschugg. „Das ist ziemlich viel Mehraufwand“, betont die Apothekerin. Auch der Umgang mit aufgebrachten Kunden sei kein Spaß. „Manche lassen ihren Frust hier ab“, erzählt die Flörsheimerin, die schätzt, dass die Engpässe schon seit etwa einem Jahr anhalten. Angefangen hätten die Probleme noch vor der Corona-Pandemie mit den Rabattverträgen, die zwischen Krankenkassen und Medikamentenherstellern geschlossen wurden. Kassen zahlen so nur noch den günstigen Preis für Produkte ihrer Vertragspartner. Dass solche Bürokratie nicht gut gehen kann, zeigte sich schnell. Der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) teilte im Januar mit, dass die Bindung an Rabattpreise für Arzneimittel mit den Wirkstoffen Ibuprofen und Paracetamol sowie für Antibiotika für drei Monate ausgesetzt werden. Die Aussetzung der Festpreise soll bis Mai gelten. Dann will das Gesundheitsministerium die Preisgestaltung für Medikamente mit einer Gesetzesreform grundlegend neu regeln.

Zu den Hintergründen der anhaltenden Engpässe hat diese Zeitung den in Flörsheim ansässigen Arzneimittelhersteller Hennig befragt. Das Unternehmen, das in diesem Jahr sein 125-jähriges Bestehen feiert, identifiziert die Rabattverträge der Krankenkassen als „Hauptursache des Übels“. Der von Rabattverträgen und Festbetragsregelungen verursachte massive Preisverfall mache Medikamente für Hersteller unwirtschaftlich. Zusätzliche Regularien würden dazu führen, dass die Personal- und Verwaltungskosten für die Firmen noch weiter steigen. „Zentralistische Markteingriffe“ durch den Gesetzgeber seien schuld daran, dass viele mittelständische Firmen Medikamente aufgrund von Unwirtschaftlichkeit vom Markt nehmen müssen. „Wenn es nun zu Lieferengpässen einzelner Medikamente mit dem gleichen Wirkstoff kommt, kann der Markt diesen Ausfall nicht mehr kompensieren“, so Hennig. Wenn es sich bei dem Ausfall auch noch um einen Rabattpartner der Krankenkassen handele, werde es immer schwieriger diese großen Mengen zu kompensieren. Denn Rabattpartner würden normalerweise bis zu 80 Prozent der Versicherten einer Krankenkasse versorgen. Andere Unternehmen würden natürlich keine Lagerbestände in dieser Größenordnung vorhalten, erläutert der in Flörsheim ansässige Betrieb. Die von der Politik gewünschte gesetzliche Verpflichtung, einen Vorrat aufzubauen, um bei einem Ausfall den Markt bedienen zu können, funktioniere nur dann, wenn die Krankenkassen sich verpflichten, diese Ware verbindlich abzunehmen. Ansonsten bleibe der pharmazeutische Unternehmer eventuell auf den Kosten sitzen - ein Risiko, das niemand eingehen wolle. Auch die Idee, durch ein dreimonatiges Aussetzen der Austauschverpflichtung von rabattierten Arzneimitteln einer Lieferunfähigkeit entgegenzuwirken, sieht man bei Hennig kritisch. Dieser Ansatz laufe ins Leere, weil die Firmen allein vier Monate benötigen würden, um ihre Produktionspläne an die erhöhte Nachfrage anzugleichen. Hinzu komme, dass sich die Zahl der Anbieter aufgrund des Kostendruckes massiv verringere, weil sich die Wirkstoffhersteller aus dem Europäischen Markt zurückgezogen haben. Diese würden jetzt hauptsächlich in Asien sitzen. Um Wirkstoffe wieder neu in Europa herzustellen, benötige man viel Zeit und Geld - so die Einschätzung von Hennig Arzneimittel. Zudem könnten die Mehrkosten aufgrund des enormen Kostendruckes nicht mehr durch die Pharmaindustrie kompensiert werden. „Sollte die Politik und die Krankenkassen dieses nicht erkennen, würde dies die Medikamentenverfügbarkeit weiter massiv verschlechtern“, warnt die Firmenführung. sas

Auch interessant

Kommentare