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Hattersheim: Richterin ist „fassungslos“ über Tatzeitraum

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Mit Aktenmappen schirmten die Anwälte den Angeklagten bei Prozessterminen im Verhandlungssaal vor den Blicken der Kameras ab. Der 35 alte Hattersheimer wurde wegen Vergewaltigungen sowie Missbrauch von Jugendlichen verurteilt. FOTO: Boris Roessler/dpa
Mit Aktenmappen schirmten die Anwälte den Angeklagten bei Prozessterminen im Verhandlungssaal vor den Blicken der Kameras ab. Der 35 alte Hattersheimer wurde wegen Vergewaltigungen sowie Missbrauch von Jugendlichen verurteilt. © dpa

Ex-Fußballjugendtrainer zu über 12 Jahren Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Hattersheim/Frankfurt -Zwölf Jahre und neun Monate Haft plus anschließender Sicherungsverwahrung - nach gut sechs Monaten Prozessdauer wurde im Prozess gegen den 35 Jahre alten ehemaligen Fußball-Jugendtrainer wegen schwerer Vergewaltigung, Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sowie zahlreicher anderer Vergehen gestern dieses Urteil des Frankfurter Landgerichts verkündet. Während die 19 zurückliegenden Verhandlungstage weitgehend hinter verschlossenen Türen abgewickelt wurden, war die Urteilsverkündung und anschließende -begründung öffentlich. Vorsitzende Richterin Anke Wagner von der Jugendschutzkammer zeigte sich zu Beginn ihrer Ausführungen „fassungslos“ besonders über den lange währenden Tatzeitraum. Seit 2008 mussten sich Kinder und Jugendliche verschiedener Fußballvereine die Übergriffe des 35 Jahre alten Angeklagten gefallen lassen. In all diesen Jahren habe es zwar immer wieder Gerüchte gegeben, „passiert ist jedoch nichts“, sagte Wagner. Erst als Anfang 2020 einer der Jugendlichen die Traute hatte, eine Strafanzeige gegen den Trainer zu erstatten, kamen Details ans Tageslicht, die wohl kaum jemand zuvor für möglich gehalten hatte.

Der erst nach der quälenden Vernehmung von zehn Missbrauchs- und Vergewaltigungsopfern im Zeugenstand teilweise geständige Angeklagte bediente sich dabei eines besonders „perfiden Modells“, wie Richterin Wagner erklärte, um sich das Vertrauen der jungen Fußballer dauerhaft zu sichern. Er trat zunächst als großer Unbekannter in den sozialen Netzwerken auf, wo er Drohgebärden entwickelte und die jungen Leute mit Forderungen unter Druck setzte. Diese wandten sich daraufhin in Panik an ihren Trainer, der dann in aller Ruhe als „Respektsperson“ die Drohkulisse im Sinne der Jugendlichen verschwinden ließ. Dass es sich beim großen Schreckgespenst und dem anschließenden Retter um ein und dieselbe Person handelte, wurden den meisten der elf aktenkundig gewordenen Opfern erst im Verlauf des Verfahrens bewusst. Nicht nur diese Erkenntnisse führten bei den Betroffenen zu „immensen Auswirkungen“, sagte die Vorsitzende Richterin.

Auch mit Drogen gefügig gemacht

Im Gegensatz zu anderen Fällen um sexuellen Missbrauchs Minderjähriger stammten die Opfer diesmal zum großen Teil aus sozial gefestigten, intakten Familien. Gleichwohl besaß keiner der jungen Leute die Kraft, sich im Elternhaus zu offenbaren. Die Gerüchteküche waberte über Jahre hinweg, doch Scham und das Gefühl, die Türe zu etwas Verbotenem aufzustoßen waren offenbar stärker.

„Offiziell“ ging es im Urteil um einen Tatzeitraum zwischen 2014 und 2021. Jahr für Jahr wurden die sexuellen Übergriffe dabei intensiver und schwerer. War es zunächst „nur“ der Alkohol, so kamen spätestens seit 2020 Drogen ins Spiel, die unter harmloser Schokolade verborgen waren und dazu führten, dass die Opfer den Missbrauch gar nicht mehr bewusst mitbekamen. In den gravierendsten Fällen kam es zu bis zu 50 Vergewaltigungen eines einzigen Jugendlichen. Andere „zogen sich einfach die Decke über den Kopf, bis es vorbei war“, skizzierte die Richterin eine der Zeugenaussagen. Keiner der jungen Leute habe freiwillig mitgemacht, so wie es der Angeklagte in seiner Einlassung immer wieder behauptet habe, sagte Anke Richterin Wagner. Bestenfalls seien die Übergriffe von den Betroffenen „geduldet“ worden. Man habe einfach Angst gehabt, den Bezug zu dem Angeklagten, der für manche Opfer den lange ersehnten großen Bruder ersetzt habe, zu verlieren. Fast verwundert zeigte sich die Richterin, dass viele der Betroffenen auch nach den für sie so unangenehm empfundenen Übergriffen den Kontakt mit dem Angeklagten gesucht hätten.

Erst Ende 2021 zog sich nach monatelangen Ermittlungen die Schlinge zu um den Hals des verdächtigen Jugendtrainers. Zunächst gab es eine Wohnungsdurchsuchung in Hattersheim, am 9. Dezember kam es dann zur Festnahme des Mannes. Die ganz früh liegenden Taten wurden später von der Staatsanwaltschaft fallengelassen - bei manchen Betroffenen kamen auch nur ein Teil der Übergriffe zur Verhandlung. Einer der Jugendlichen, der insgesamt 30 Mal vergewaltigt worden sein soll, wurde im Urteil mit sechs Taten erwähnt. Dass nicht alles restlos aufgeklärt und abgeurteilt wurde, lag auch an den Gründen der Prozessökonomie. Die 14 Jahre Haft, die am Ende von der Staatsanwaltschaft beantragt worden war, wären ja ohnehin kaum zu überbieten gewesen - die höchste derzeitige Bestrafung beträgt im deutschen Strafrecht 15 Jahre.

„Hang zu Straftaten“

Wenngleich die Strafanträge von Staatsanwaltschaft, Nebenkläger und Verteidigung (elf Jahre) nicht sehr weit auseinander lagen, dürfte das Urteil kaum rechtskräftig werden. Es geht um die anschließende Sicherungsverwahrung, die von den Anklagevertretern gefordert, von den Rechtsanwälten des Trainers jedoch abgelehnt worden war. Ein psychiatrischer Gutachter hatte sich im Prozess ebenfalls gegen eine solche Zusatzsanktion ausgesprochen. Die Richter orientierten sich diesmal aber ausnahmsweise nicht an der Expertise des Sachverständigen. Beim Angeklagten sei ein „Hang zu Straftaten“ festzustellen, hieß es zur Begründung. Er sei „dauerhaft zur Begehung solcher Taten entschlossen“ und deshalb weiterhin gefährlich für die Allgemeinheit und insbesondere für Kinder und Jugendliche. Dies ergebe sich auf aus der Tatsache, dass er bislang noch niemals therapiert worden sei und seine Taten im Prozess auch überwiegend bagatellisiert habe. „Es kam zu keiner richtigen Auseinandersetzung mit den Taten“, sagte die Richterin. Weil die Verteidigung einen solch unbegrenzten Freiheitsentzug voraussichtlich nicht hinnehmen wird, ist der Gang vor den Bundesgerichtshof in Karlsruhe mehr als wahrscheinlich. Bis Ende kommender Woche müsste dann eine entsprechende Erklärung vorliegen. ge

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