Zwischen Lernrückständen und Depression

Corona-Folgen werden sichtbar: Immer mehr Kinder und Jugendliche brauchen Hilfe.
Hofheim -Für viele Menschen ist die Corona-Krise noch nicht vorbei. Vor allem Kinder und Jugendliche müssen die Erfahrungen noch verarbeiten, die oft genug als gravierende Beeinträchtigung der Entwicklung in diesen Lebensphasen erlebt wurden. Zum Teil brauchen sie dabei Hilfe - und das spürt auch die Erziehungsberatungsstelle der Caritas Main-Taunus. Die kann den Ansturm nur mit Mühe bewältigen und braucht Unterstützung.
Schon bald nach der Jahresmitte seien so viele Beratungsanfragen eingegangen wie im gesamten Jahr 2022, sagt Stephan Trossen, Fachbereichsleiter Beratung und ambulante Jugendhilfe in der Beratungsstelle. Und 2022 war schon ein Rekordjahr mit 420 Fällen, das waren 57 mehr als 2021. Wobei 2021 auch schon ein Höchststand erreicht wurde. In der Ehe- und Familienberatung war eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen, lediglich in der Schwangerschaftsberatung gab es leicht rückläufige Zahlen. Dieser Rückgang konnte aber die zusätzliche Belastung in der Jugend- und Familienberatung längst nicht ausgleichen.
„Erschöpftes und verzweifeltes Klientel“
Wie kommt das? „Wir begegneten einem erschöpften, angespannten und auch teilweise verzweifelten Klientel“, heißt es im Jahresbericht der Beratungsstelle. Noch hätten viele die persönlichen Krisensituationen in der Corona-Pandemie nicht verarbeitet, da folgte auch schon der Ukraine-Krieg, verbunden mit Inflation und Energiekrisen. „Soziologen sprechen hier von einem Phänomen der Stapelkrisen.“
Für viele Erwachsene bedeutete dies, für eine Menge Dinge des täglichen Bedarfs einfach nicht mehr genug finanzielle Mittel zu haben. Besondere Sorge machen aber Kinder und Jugendliche. In großer Masse seien nicht „einholbare Lernrückstände, vielerlei Ängste und Angststörungen, Depressionen und Orientierungslosigkeit“ sichtbar geworden. Bei Erwachsenen wiederum wird beobachtet, dass Paare Probleme bekommen und sich trennen. Die besonderen Lebensbedingungen während der Pandemie haben viele Familien extrem belastet.
Der Bericht macht sehr deutlich, dass das Gesamtgeschehen Langzeitfolgen haben kann. „Vielen Menschen wird auffallen oder ist schon längst aufgefallen, dass sie bestimmte Lebensphasen verpasst haben, die für vorige und auch kommende Generationen selbstverständlich sind oder sein werden.“ Und das lässt sich nicht immer kompensieren. „Diese verlorenen Zeiten, die erlebte Ungerechtigkeit müssen auch von jedem erst mal wahrgenommen und dann akzeptiert werden.“
Nicht für jeden ist nur die Hilfe einer Beratungsstelle das richtige Angebot; in manchen Fällen ist klar, dass eine Psychotherapie oder eine psychiatrische Behandlung her muss. Aber die Wartezeiten auf Therapieplätze sind viel zu lang, heißt es in dem Jahresbericht. Deshalb muss die Beratungsstelle immer wieder Ratsuchende begleiten und stabilisieren, bis ein Therapieplatz zur Verfügung steht. Nach Trossens Worten haben auch diese Fälle zugenommen. Es liegt auf der Hand, dass diese Hilfeleistungen Kräfte binden, die dann für andere Aufgaben nicht zur Verfügung stehen.
Berater sehen auch das Land in der Pflicht
Die Caritas hat dies frühzeitig dem Main-Taunus-Kreis signalisiert, der über das normale Budget hinaus noch einmal 80 000 Euro zur Verfügung gestellt hat. Damit konnte eine Dreiviertelstelle in diesem Sommer besetzt werden. Außerdem konnten mit Mitteln der Kirche Honorarkräfte eingestellt werden. Dafür wurden ehemalige Mitarbeiter aus dem Ruhestand geholt oder der Wechsel in das Rentnerdasein verschoben.
Aber die Zahl der Beratungsfälle nimmt zu. Und die Mittel der Kirche für die Finanzierung von Honorarkräften werden irgendwann erschöpft sein. Der Main-Taunus-Kreis stehe finanziell selbst mit dem Rücken zu Wand, unter anderem wegen der Unterbringung von Flüchtlingen, weiß Trossen. Deshalb hat sich der Verband der Beratungsstellen jetzt an das Land Hessen gewandt.
Dieses argumentiere zwar, dass diese Beratung eine Aufgabe der Kommunen sei. „Wir hängen zwischen den Zuständigkeiten fest“, sagt Trossen. Aus Sicht der Beratungsstellen jedenfalls habe das Land eine Verantwortung, und darauf werde man jetzt hinweisen. Ob die anstehenden Koalitionsverhandlungen eine gute Gelegenheit sind, das Thema zu platzieren?