Eine Schatzkiste fürs Leben
Waren es früher vor allem behinderte Kinder, die unterstützt wurden, so ist das Aufgabengebiet der Frühförderstelle inzwischen viel komplexer geworden.
„Das ist unser Toys ’R' Us.“ Gabriele Fröhlich führt den Gast in ein Lager, das von unten bis oben mit Spielsachen vollgepackt ist. Jeder der 13 pädagogischen Mitarbeiter der Frühförderstelle der Lebenshilfe Main-Taunus habe bei Hausbesuchen mehrere Körbe mit Anregungen zum Spielen dabei. In dem Kinderparadies sind jede Menge interessante Dinge zu entdecken: ein ganzes Regal voller Gesellschaftsspiele, Eimer mit Steinen, Korken, Bohnen und Erbsen für Zählübungen, ein selbstgebasteltes Hör-Memory aus Filmdosen und ein weiteres, eigens kreiertes Zählspiel mit Bierdeckeln, auf denen Tiere abgebildet sind. „Spielen ist die Arbeit der Kinder. Damit legen sie den Grundstock, um ein Leben gut bestehen zu können“, weiß Gabriele Fröhlich, die Leiterin der Frühförderstelle hier im Hinterhof der Wohnsiedlung an der Görlitzer Straße – aber mit direktem Parkblick. Astrid Lindgren, die berühmte Schriftstellerin, hat es einmal so formuliert: Wer als Kind genügend gespielt habe, „der trägt Schätze mit sich herum, aus denen man später sein ganzes Leben schöpfen kann“.
Diese Philosophie wird auch in den Räumen der Frühförderstelle gelebt – und das nun schon seit 30 Jahren. Dieses Jubiläum hat die Einrichtung, deren Träger von Anfang an die Lebenshilfe ist, in der Stadthalle groß gefeiert. Viel Lob gab es von den Gästen für die Initiative – allen voran Erster Kreisbeigeordneter Wolfgang Kollmeier, der die gute Vernetzung mit den anderen frühen Hilfen für Kinder hervorhob. Kelkheims Bürgermeister Albrecht Kündiger indes bedauerte ein wenig, dass die Frühförderung vermutlich 2017 ins neue Lebenshilfe-Zentrum in Marxheim umziehen wird. Und er betonte, dass die ideale Situation sei, wenn es erst gar nicht zu einer besonderen Förderung der Kinder kommen müsse.
Doch davon ist die Realität ein gutes Stück entfernt, räumt Gabriela Fröhlich ein. Waren es früher vor allem behinderte Kinder, die hier unterstützt wurden, so ist das Aufgabengebiet inzwischen deutlich vielschichtiger geworden. Es werde „immer komplexer“ und stelle „immer neue Herausforderungen für uns dar“, weiß die Diplom-Sozialpädagogin. So gebe es immer mehr Kinder mit Entwicklungsstörungen – aus den unterschiedlichsten Gründen. Das seien gesellschaftliche Veränderungen wie eine längere Kita-Zeit bis in den Nachmittag, ein durchgeplanter Alltag, wenig Bewegung wegen der „Eltern-Taxis“, aber auch nicht selten labile oder psychisch kranke Elternteile. Nicht zuletzt stellt Fröhlich mit ihrem Team von 13 Fachkräften – von der Diplom-Pädagogin über die Krankenschwester bis zur Heilpädagogin – eine „zunehmende Verhäuslichung“ fest. „Kindheit spielt sich zunehmend in geschlossenen Räumen ab“, weiß sie, dass die neuen Medien hier eine problematische Rolle spielen.
So gibt es weiterhin alle Hände voll zu tun für die Frühförderstelle. Rund 300 Kinder, manche erst wenige Wochen alt, andere kurze vor dem Grundschuleintritt, wurden im Vorjahr betreut. Hinzu kommen viele weitere Anfragen. In diesem Jahr sind es schon wieder 150 Fälle, so dass Gabriele Fröhlich weiterhin einen hohen Bedarf sieht. Wartezeiten von bis zu einem Jahr seien ärgerlich, aber nicht zu vermeiden. Gerade aus den Kindergärten erreicht die Frühförderstelle so mancher Hilferuf, aktuell kommen laut der Leiterin auch die ersten Anfragen von Flüchtlingsfamilien. Wie überhaupt der Anteil der Familien mit Migrationshintergrund zugenommen hat.
Daran war vor drei Jahrzehnten noch nicht zu denken. Zunächst war noch das Gesundheitsamt in Höchst für die Frühförderung zuständig. Als die Lebenshilfe unter mehreren interessierten Trägern den Zuschlag bekam, legte das Team mit 1,5 Fachkräften und rund 20 betreuten Kindern in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in Hofheim los. Es folgten mehrere Umzüge und Erweiterungen, bis die Frühförderstelle 2002 in Kelkheim heimisch wurde und hier auf rund 400 Quadratmetern viel Platz zum Spielen, Beraten und Betreuen der Kinder, aber auch der Eltern hat.
Das Spektrum wurde nach und nach ausgebaut. Es gibt Einzelförderungen, sowohl in den Kelkheimer Räumen, als auch bei den Familien zu Hause, Beratungen und Begleitungen der Familien, Gruppenangebote für Psychomotorik, für Rhythmik, im Wasser, bei Spielkreisen und bei Bedarf weitere Angebote. Regelmäßig bietet die Förderstelle den Elterngesprächskreis und Informationsabende an. Ziel sei es, mit diesen Angeboten in den Familien „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu leisten, formuliert es Gabriele Fröhlich. Wenn die Kinder bei alltäglichen Dingen wie dem Tischdecken oder beim Einkaufen zum Beispiel Zählen üben, dann sei das eine gute Lernhilfe – „und es hat auch nicht so einen Fördercharakter“.
Insgesamt rund 60 Frühförderstellen gibt es in Hessen, in jedem Landkreis mindestens eine, in Frankfurt allein sechs. Die Anlaufstelle im MTK ist in den 30 Jahren gewachsen, ein Drittel der Mitarbeiter sei schon mehr als 20 Jahre dabei, ein weiteres seit mindestens 15 Jahren, betont Fröhlich. Das spreche auch für die Konstanz der Arbeit. Doch gewisse Vorgaben machen der Förderstelle das Leben nicht immer leicht, weiß die Leiterin. So sei die Förderung bei gleichzeitiger Integration in der Kita 2015 von einem auf ein halbes Jahr beschränkt worden – eine Verlängerung nur schwer möglich. Dass hier eine kontinuierliche Unterstützung des Kindes und seiner Familie nicht einfach ist, liegt auf der Hand. Und doch blickt das Team, zu dem mit auch die Kinder- und Jugendärztin Dr. Heidi Jorg zählt, auf viele Erfolge zurück. Wenn zum Beispiel ein früher betreutes Kind mit Wahrnehmungsproblemen jetzt Abitur macht, oder sie von anderen noch heute Postkarten bekommt – dann weiß Gabriele Fröhlich, dass sich die Arbeit in drei Jahrzehnten allemal gelohnt hat.
(wein)