Kelkheim: Der Hüter eines "unglaublichen Schatzes"

Stadtarchivar Dietrich Kleipa hört nach 54 Jahren auf, kündigt aber an: "Ich mach' weiter"
Kelkheim. Dietrich Kleipa erinnert sich noch gut, als er in der Abschlussklasse der Volksschule ein Geschenk erhielt: das Buch von Pfarrer Hilpisch über das Kirchspiel Münster. "Das war die Geschichte von Kelkheim", war der junge Mann vom Präsent der Stadt ziemlich begeistert - im Gegensatz zu den meisten seiner Mitschüler. Für Kleipa war es der Beginn einer außergewöhnlichen beruflichen wie ehrenamtlichen Karriere. Denn durch das Büchlein bekam der heute 79-Jährige richtig Lust, die Geschichte seiner Heimat zu erforschen. So wurde er 54 Jahre lang Kelkheims Stadtarchivar und gibt diesen Posten nun aus gesundheitlichen Gründen zum Jahresende ab.
Julian Wirth als Nachfolger im Boot
Um bei der Verabschiedung im kleinen, Corona-konformen Rahmen aber gleich zu betonen: "Ich mach' weiter, das habe ich Herrn Wirth schon angedroht." Julian Wirth ist offiziell sein Nachfolger als Stadtarchivar. Die Fußstapfen seien "nicht nur groß, sondern fast überdimensioniert", doch er arbeite schon jetzt gut mit Kleipa zusammen und hofft, "dass wir unsere wöchentlichen Treffen weiter durchführen dürfen", sagt Wirth. Für den Vorgänger war die lange Corona-Pause neben der Gesundheit ein Grund, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen. Offiziell wäre es im Sommer 2021 zum 80. Geburtstag geplant gewesen.
Kleipa kann nun früher auf eine besondere Karriere zurückblicken. Die pragmatisch begann: Sein erster Vortrag bei der Kolpingsfamilie 1965 war ein Erfolg, eine Wiederholung gewünscht. "Das gab mir Auftrieb", so Kleipa. Dann durfte er im Verein für Heimatkunde in Königstein als Gast vortragen. Konrad Huth, Journalist der Taunus-Zeitung, habe ihn danach derart gelobt, "das hat mich auch wieder gestärkt". Im Kelkheimer Bauamt wollte er sich "aus privatem Interesse" alte Flurkarten anschauen. Da rannte er bei Bauamtsleiter Franz Ball offene Türen ein. Der Mann wurde gleich verpflichtet, denn in der Stadt lag die historische Arbeit bis auf einige private Heimatforscher brach. Ein Stadtarchiv habe es nicht gegeben, weiß Kleipa.
1966 erhielt er seinen ersten Auftrag als Startschuss. Kleipa sollte für den Magistrat die "Heinrich-Freiherr-von-Gagern-Plakette" entwickeln, die seitdem als verdienter Bürger verliehen wird. Er selbst erhielt sie 1974 in Silber und 2016 zu 50 Jahren Tätigkeit in Gold - mehr geht nicht in der Möbelstadt.
In dieser Zeit hat die emsige Spürnase das Archiv stets mit Unterstützung der Bürgermeister aufgebaut, unzählige Vorträge gehalten und Bücher veröffentlicht. Gezählt habe er das alles nicht, sagt Kleipa. Doch habe er zum Beispiel zu Hause noch 50 Ordner, die er irgendwann ins Archiv überführen wolle. Ein Denkmal in Stein hat sich Kleipa mit der Sammlung von 13 Grenzsteinen gesetzt, die im Mühlgrundpark aufgestellt sind. In Zeiten eines "Grenzstein-Klaus", die dann oft in Partykellern landeten, habe er einige dieser Zeugnisse retten können. Aber durch das Tragen auch mal einen doppelten Leistenbruch erlitten.
Kleipa könnte Stunden erzählen über seine Tätigkeiten. Deshalb beantwortet er bei seiner Verabschiedung lieber Fragen und kommt ohnehin auf seine Anekdoten. So sei er als erster Kreisheimatpfleger 1980 bei den Grünen nicht gern gesehen worden. Denn sei er "unnötig wie ein Kropf gewesen", sagt Kleipa an die Adresse von Bürgermeister Albrecht Kündiger, selbst bei den Kreis-Grünen damals aktiv. Nach einem Gespräch habe die Partei aber den Nutzen der Stelle gesehen, und so titelte diese Zeitung dann: "Dickes Lob für Kleipa".
Eine Führung mit 500 Teilnehmern
Das erhielt er in Kelkheim ebenfalls zuhauf. Einmal habe er rund 500 Personen bei einer seiner beliebten öffentlichen Führungen gezählt. Dort habe ein Vater mit seinem Sohn berichtet, er sei schon als kleiner Bub selbst mitgelaufen. Dass er mehrere Generationen habe begeistern können, das freut ihn. Wenn Arbeiten von ihm, wie die Tafeln zum Staufenschwur der Gagern, in Wanderbüchern erwähnt werden, ist er froh, "dass ich in der Stadt häufig mein Wirken sehe". Und in 70 Prozent der Fälle habe er als Erster alte Akten in den Händen gehalten, fügte neue kleine Puzzleteile der Geschichte der Stadt hinzu. Er weckte das Kelkheimer Gerichtsbuch im Tresor im Rathaus aus dem Dornröschenschlaf. Oder entdeckte unter der Alten Kirche die Gräber zweier Herren von Hornau. Und forschte zur Rolle der Stadt Kelkheim in alten Filmen oder zur Geschichte der Kinos. Nicht immer war alles haltbar. So konnten die Tongruben in Münster nie die Ziegeleien in Nied beliefert haben, wie anhand von Proben ermittelt wurde. Das hatte er berichtet. So gebe es schon hin und wieder "Dinge, die korrigiert werden können".
Doch das tut der Lebensleistung von Dietrich Kleipa keinen Abbruch. Und so fällt das Lob bei der kleinen Abschiedszeremonie vielfältig aus. Bürgermeister Kündiger bezeichnet ihn als "Phänomen", als "Unikum", der nicht an der Uni Geschichte studiert und sich autodidaktisch alles erarbeitet hat. "Das ist so typisch für Sie, das macht Ihre Führungen und Vorträge so beliebt. Vor allem die Art und Weise, wie Sie das präsentieren, das fesselt die Leute", lobt der Rathauschef seinen ältesten Mitarbeiter. Kleipas Fachwissen sei ein "unglaublicher Schatz", auf den die Stadt gerne noch weiter zurückgreife. Bei Julian Wirth sei die Stelle selbst aber nun "in guten Händen".
Wertvoll: Aufarbeitung der Stadtgeschichte
Kulturamtsleiterin Beate Matuschek wiederum hebt die sehr gute Zusammenarbeit mit Kleipa bei wichtigen Projekten wie dem Gagern-Rundweg oder dem Projekt "Kelkheim in der NS-Zeit" hervor. Christine Michel, stellvertretende Leiterin des Haupt- und Rechtsamtes, würdigt seine sehr intensive Kärrnerarbeit im Archiv: "Das ist ganz wertvoll für die Aufarbeitung von Geschichte." Und Kleipa hat nun besondere Geschenke, bei denen ihm nicht langweilig wird: ein Abendessen mit dem Bürgermeister, ein Buch und die Möglichkeit, seine vielen alten Spielfilme zu digitalisieren.
Zur Person:
Schon als Dreijähriger musste Dietrich Kleipa 1944 seinen Geburtsort Königsberg verlassen und kam auf der Flucht auf Umwegen dann 1951 nach Kelkheim. Der junge Mann ging zur Volksschule, zur Bundeswehr und machte eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann im Kelkheimer Kaufhaus "Schade & Füllgrabe". Später war er als Handelsvertreter für Schablonen und Stanzmaschinen in Hornau beschäftigt, bis die Firma schloss und er seinen Job los war.
Wie gut, dass Kleipa zu diesem Zeitpunkt bereits als Fachmann für regionale Geschichte bekannt war. Denn auch dank der Kontakte wurde er 1980 als erster hauptamtlicher Kreisheimatpfleger im MTK eingestellt. 20 Jahre wirkte er ehrenamtlich in Kelkheim und beruflich im Main-Taunus-Kreis. Dort führte er 1993 unter anderem das noch heute sehr beliebte MTK-Jahrbuch ein. Ursprünglich wollte er Seemann, "Geschichtsforscher" oder Drucker werden. Immerhin eine der Sachen hat er später zum Beruf gemacht. Seine Frau Christa steht hinter dem Engagement, zwei Kinder und zwei Enkel sind historisch (noch) nicht in die Fußstapfen getreten. Aber der Großvater ist natürlich stolz, wenn ein Enkel mal eine "Eins" in Geschichte schreibt.