Anwälte halten Gutachter für befangen

Thielsch-Prozess: Verteidigung will weitere Zeugen laden.
Frankfurt/Kriftel -Es war ein Paukenschlag im zweiten Thielsch-Prozess vor dem Landgericht Frankfurt gewesen: Im Mai hatte der Sachverständige Paul-Christian Gerhard in seinem Gutachten den Angeklagten Hendrik R. schwer beschuldigt. Gestern der Gegenschlag der Verteidigung: diese lehnt den Sachverständigen wegen des Vorwurfs der Befangenheit ab. Und dies machte Rechtsanwalt Thomas Scherzberg gleich an mehreren Punkten fest.
Er und sein Kollege Edgar Fiebig bemängelten zunächst einmal, dass sie trotz vorheriger Zusage des Sachverständigen vom Ortstermin an der Hohlmauer, wo das gesamte Geschehen detailgenau nachgestellt wurde, keine Kenntnis erhalten hatten. Der Vorsitzende Richter der 22. Strafkammer, Dr. Jörn Immerschmitt, erklärte nur nüchtern, dass ihm es ganz recht sei, dass weder das Gericht noch Verteidigung, Staatsanwaltschaft oder auch die Nebenkläger bei solchen Terminen dabei sind.
Wie es mit den Vorwürfen der Verteidigung insgesamt umgeht, dazu wird sich das Gericht noch intensiv beraten. Der Sachverständige Gerhard hatte in seinem Gutachten ausführlich dargelegt, dass Hendrik R. im September 2015 bereits bei der Fahrt mit seinem Mercedes durch den Kreisel hätte bemerken müssen, dass er Silke Thielsch überfahren hatte. Diese hatte sich am Zebrastreifen mit ihrem Lebensgefährten Oliver Kriz geküsst, war dann auf die Motorhaube des Mercedes geschleudert worden. Hendrik R. hatte ausgesagt, er habe angenommen, sie sei zur Seite gesprungen. Als sich der Wagen anhob, habe er gedacht, auf einen Bordstein gefahren zu sein.
Mit einem Biofidel-Dummy CTS, das von der HTW Dresden weiterentwickelt und zertifiziert ist, und das mit dem realen Menschen vergleichbar sei, hatte der Sachverständige das Verhalten des Wagens beim Überrollen von Silke Thielsch nachgestellt. Dafür sei dieses Dummy nach Ansicht der Verteidigung nur sehr beschränkt geeignet und beruft sich dabei auf weitere Publikationen. Dies habe der Sachverständige in seiner Expertise jedoch nicht kenntlich gemacht. Im Übrigen zweifeln die Anwälte an der Kompetenz des Gutachters, da auch die aus der Dummy-Untersuchung erfolgte Spurenlage falsch bewertet worden sei. Eine eindeutige Spur vom Abrieb der Kleidung und Haut von Silke Thielsch sei erst 100 Meter vor der Kreuzung mit der L 3011 nachgewiesen worden. Die Verteidigung fordert deshalb ein neues Gutachten eines Professors der Instituts für Rechtsmedizin an der Universität in München.
Dem Vorwurf des Gutachters Gerhard, Hendrik R. hätte unterscheiden können, ob man einen Bordstein oder einen Körper überfährt, halten die Anwälte entgegen: Wie solle ihr Mandant dies unterscheiden, wenn er so einen Unfall noch nie erlebt habe und keine Vergleichsmöglichkeit habe, so Rechtsanwalt Scherzberg. In allen kritisierten Punkten habe der Gutachter zulasten des Angeklagten gewertet, begründen die Verteidiger ihren Antrag auf Befangenheit.
Als Zeuge soll deshalb noch einmal der Sachverständige aus dem ersten Prozess geladen werden. Da dieser nicht mehr bei der Dekra beschäftigt ist, hatte das Gericht für den zweiten Prozess nach der erfolgreichen Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) den Sachverständigen Gerhard beauftragt. Anwalt Scherzberg konnte sich gestern nicht den kurzen Hinweis verkneifen, es habe ihn nur zehn Minuten gekostet, den Sachverständigen von damals ausfindig zu machen. Die Verteidigung legte gestern dem Gericht noch weitere Beweisanträge vor: So sollen die beisitzenden Richter aus dem ersten Prozess sowie noch einige Polizeibeamte gehört werden. Das Gericht wird sich nun mit den Anträgen der Verteidigung beschäftigen wie dies auch die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung der Nebenkläger tun werden. Dr. Immerschmitt erklärte nur so viel, wenn ein weiteres Gutachten eingeholt werden sollte, sei für ihn „der Abschluss des Verfahrens in diesem Jahr nicht vorstellbar“.
Vorsorglich hat die 22. Strafkammer bis Ende des Jahres jeden Mittwoch für Verhandlungen für das Verfahren geblockt, wobei schon jetzt absehbar ist, dass es immer wieder Ausfälle durch Urlaub geben wird. Der Prozess wird in der nächsten Woche fortgesetzt.