Entscheidende Wende im zweiten Thielsch-Prozess?

Angeklagter hätte Todesfahrt früher stoppen können - Erschütternde Details.
Kriftel/Frankfurt -Ist das die entscheidende Wende im Thielsch-Prozess? Der Angeklagte Hendrik R., der im September 2015 Silke Thielsch und deren Lebensgefährten Oliver Kriz am Zebrastreifen „Auf der Hohlmauer“ angefahren und die 41-Jährige dann über 400 Meter mitgeschleift hatte, hatte zuletzt noch betont, dass er sofort gehalten hätte, wenn er es für möglich gehalten hätte, dass er die Frau überfahren hat. Erst vor der Kreuzung der L 3011 habe er eine seltsame Bewegung im Lenkrad gespürt. Der Sachverständige Paul-Christian Gerhard ist allerdings fest davon überzeugt, dass der Angeklagte bereits im Kreisel gemerkt haben muss, dass an seinem Wagen etwas nicht stimmt und sich die Frau wohl unter seinem Wagen befindet.
Der Vorsitzende Richter der 22. Strafkammer, Dr. Jörn Immerschmitt, hatte die Zuschauer im Saal 9 des Frankfurter Landgerichts am Mittwochmorgen vorgewarnt. Es würden belastende Fotos - auch von der Obduktion - in dem Gutachten zu sehen sein, das der Sachverständige dem Gericht präsentieren würde. „Ich kann das nicht ertragen“, sagte ein guter Freund der Verstorbenen und verließ den Saal. Der Sachverständige, der im ersten Prozess vor über fünf Jahren den Tathergang analysiert hatte, ist nicht mehr bei der Dekra beschäftigt. Dieser hatte vor Gericht erklärt, dass er nicht zu hundert Prozent sagen könne, dass Hendrik R. gemerkt haben muss, dass er Silke Thielsch überfuhr und mitschleifte. Bei der Neuauflage des Verfahrens nach der Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH) wurde nun der Gutachter Gerhard beauftragt. Dieser hat bereits den gesamten zweiten Prozess begleitet und sich akribisch mit dem furchtbaren Geschehen auseinander gesetzt.
Nächtliche Situation im Detail nachgestellt
In einem über vierstündigen Vortrag schilderte er der Strafkammer am Mittwoch, wie er sich dem gesamten Geschehen genähert hat und zu welchen Ergebnissen er gekommen ist. Nicht allein, dass er mehrmals vor Ort war, nachts die Situation nachgestellt hatte, bis ins kleinste Detail. Dass er die Zeiten, wann die Lampen damals leuchteten, bei der Gemeinde Kriftel nachgefragt hatte, ist nur eines von vielen kleinen Bausteinen, die er zusammen gesetzt hat. Mit Dummys wurde das Geschehen nachgestellt und das Verhalten des Wagens rekonstruiert.
Hendrik R. hatte am 6. September 2015 seinen Mercedes vor dem Zebrastreifen gestoppt, wo sich das Paar küsste. Dann ist er kurz vor gerollt, gestoppt, dann muss er Gas gegeben haben. Während Oliver Kriz zur Seite fiel, wurde Silke Thielsch auf die Motorhaube gehoben, sie saß mittig, so der Gutachter. Dies habe der Fahrer durch das periphere Sehen, mit dem auch Dinge in den Augenwinkeln erfasst werden, zweifelsfrei sehen müssen, obwohl dieser selbst angab, durch sein Navi abgelenkt worden zu sein. Etwa sechs Sekunden hielt sich das Silke Thielsch auf der Motorhaube, dann rutschte sie ab, geriet unter das Auto, dabei gelangten die Beine in den Radkasten. Der Mercedes fuhr weiter und der Körper wurde mitgeschleift. Harte Kost für alle Anwesenden im Gerichtssaal waren die Bilder von der Obduktion. Diese dokumentieren Verletzungen, die selbst der erfahrene Gutachter in diesem Ausmaß noch nicht gesehen hatte, wie er erklärte. Zerfetzte Kleidungsstücke, die sich der Sachverständige aus der Asservatenkammer der Polizei besorgt hatte, vervollständigten das Bild.
Mercedes zog auf gerader Strecke nach rechts
Erschütternd auch dessen Vermutung, dass Silke Thielsch die 400 Meter, bis das Auto hinter der Kreuzung der L 3011 stoppte, wohl bei vollem Bewusstsein gewesen ist, denn im Gesicht und am Kopf habe es verhältnismäßig geringe Verletzungen gegeben, so der Sachverständige. Silke Thielsch sei erstickt, als der Mercedes in der Kapellenstraße mit zwei Rädern auf den Bordstein fuhr. Hätte Hendrik R. früher angehalten, vielleicht hätte das Schlimmste noch verhindert werden können, mutmaßte der Gutachter.
Und das war offenbar durchaus möglich, denn, so das Gutachten, habe Hendrik R. schon im Kreisel merken müssen, dass er Silke Thielsch überfahren hat. Messtechnisch belegt und auch im Pkw sei spürbar gewesen - das hätten die Versuche mit dem Dummy ergeben - wie sich die Beine im rechten Radkasten verfangen haben. Und auch bei der Weiterfahrt auf der geraden Strecke aus dem Kreisel Richtung Kreuzung müsse ein Widerstand in der Lenkung spürbar gewesen sein. Der Mercedes zog laut Gutachten nach rechts, was der Fahrer mit Gegenlenken nach links habe ausgleichen müssen. Außerdem habe das Vorderrad, in dem sich das Bein verhakt hatte, den Wagen abgebremst und zudem habe der etwa 80 Kilo schwere Körper eine höhere Motorleistung erfordert.
Wegen der Elternzeit eines beisitzenden Richters wird der Prozess erst im Juli fortgesetzt.