Liederbach: Die "Elternlehrer" machen mobil

Elterninitiative 2020 hat gut 200 Unterstützer. Und macht Ideen für mehr Unterricht.
Liederbach -Max liest konzentriert in seinem Lernbuch mit der Krake. Und Niklas schreibt schon durchaus anspruchsvolle Wörter für einen Erstklässler auf: Kartoffel, Paprika Radieschen. Doch halt: Hannelore Hoffmann hat einen Fehler entdeckt und korrigiert den Siebenjährigen. Die Oma der Zwillinge ist heute mal wieder in die Rolle der Aushilfslehrerin geschlüpft. Sie habe das ihrer Tochter Rebecca Brandt und deren Mann Karsten angeboten. Und da beide berufstätig sind, kommen sie gerne hin und wieder auf die Hilfe der 80-Jährigen zurück. Hannelore Hoffmann wiederum hat Spaß an ihrer neuen Rolle - doch sie findet schon, dass Schule auch in Corona-Zeiten ein wenig mehr leisten könnte und müsste. Und die beiden Jungs würden auch gerne wieder zum Lernen gehen.
"Man fühlt sich allein gelassen, ohne Lobby"
Da spricht die Mutter der Tochter aus der Seele. Rebecca Brandt ist Initiatorin der Elterninitiative 2020, die sich jetzt gebildet und bereits mehr als 200 Unterstützer hat. Viele Liederbacher sind dabei, weil der Startschuss hier fiel, doch auch ähnlich aktive und denkende Menschen aus ganz Hessen haben sich angeschlossen. Die Initiative hat nun einen ausführlichen Brief an das Hessische Kultusministerium geschrieben, in dem sie ihrem Unmut über die Beschulung in Corona-Zeiten Luft macht und Verbesserungen vorschlägt. Immer wieder werde die Vereinbarkeit von Familie und Beruf betont, "dann kommt die Krise - und schwups sind alle weg", sagt die Liederbacherin. Ihre Jungs haben ab 2. Juni einmal in der Woche sechs Stunden Unterricht, Video-Konferenzen gibt es zum Teil noch. "Dadurch, dass maximal 25 Prozent des Unterrichtsumfangs in der Schule stattfinden soll, muss immer noch ein Großteil der Wissensvermittlung durch die Eltern zuhause stattfinden", schreibt die Initiative. Viele Eltern müssten das Homeschooling "zwischen Job und Betreuungspflichten" erledigen. "Damit wird auch die Qualität des derart vermittelten Wissens nicht garantiert." Die Initiative spricht von einem "kollektiven Bildungsdefizit", das entstehe. Die Eltern würden zu "Hilfslehrern" gemacht.
Im Hause Brandt kann die Oma ab und zu einspringen. Doch ihre Tochter weiß: Je länger es nur wenig Präsenzunterricht gebe, desto mehr Probleme könnten Vater und Mutter mit ihrem Arbeitgeber bekommen. Irgendwann seien die Kinder dann womöglich komplett alleine zu Hause, fürchtet Brandt, die vier Kinder an drei Schulen hat. "Es ist alles so unbefriedigend. Man fühlt sich allein gelassen, hat keine Lobby." Und so ist sie auch wenig überrascht, bisher noch keine Antwort auf den Brief erhalten zu haben.
Dabei macht das Schreiben nicht nur Vorwürfe, sondern auch Vorschläge, wie mehr Unterricht möglich wäre. Es sei zum Beispiel nicht hinnehmbar, fehlende Raumkapazitäten als Problem anzuführen. "Diese Gründe sind mit ausreichenden finanziellen Mitteln behebbar", heißt es. So stünden zum Teil noch Turnhallen, Gemeindezentren, in Liederbach auch das Obergeschoss der Kita "Kinderkiste" oder andere Bereiche leer. Auch viele verfügbare Container wären eine Übergangslösung. Und warum könnten nicht Lehramtsstudenten für den Unterricht eingesetzt, Pensionäre zurückgeholt oder Quereinsteiger angeworben werden? Das fragt die Initiative zum Thema Personal und wird deutlich: "Warum sehen wir im Bereich der Schulen keine kreativen Lösungsansätze, wie sie in anderen Bereichen entwickelt wurden?"
Jede Einrichtung muss alles selbst denken
Rebecca Brandt betont, sie wolle damit keine direkte Kritik zum Beispiel an der Liederbachschule üben, wohin ihre Zwillinge gehen. Die Schulleiterin mache "das Mögliche", es gebe sehr engagierte Lehrer. Auch der Elternbeirat unterstütze die Initiative. Er sehe allerdings auch die Interessen jener sehr vorsichtigen Eltern, die im Sinne der Gesundheit am liebsten noch gar keine Schule wollen. "Irritiert" ist Brandt darüber, dass das Land den Schulen zwar die Öffnung erlaubt, aber nur wenig weitere Vorgaben mache. "So muss jede Schule alles selbst denken", sieht sie deutliche Reibungsverluste. Den neuen "Elternlehrern" werde zudem nicht erklärt, wie sie ihre Rolle ausfüllen sollen. "Sie müssen informiert und abgeholt werden." Ihre Einschätzung: "Da will sich jetzt jeder rausziehen." Deshalb fürchtet sie, dieses Schuljahr sei gelaufen. Aber nach den Sommerferien müsse in jedem Fall eine vernünftige Lösung her, fordert sie.
Für die Gemeinde Liederbach besteht sie nicht darin, öffentliche Gebäude für die Schule zu öffnen, sagt Bürgermeisterin Eva Söllner. Sie könne die Anliegen der Eltern "grundsätzlich verstehen", diese seien sicher auch "berechtigt". Doch Hallen oder Kitas für die Schule zu nutzen, sei schwierig. "Wir können die Vorschriften nicht so einhalten", sieht sie Probleme. Aber sagt auch: "Ein Tag Schule ist zu wenig." Und es müssten ganz andere Online-Angebote her. Für die Elterninitiative 2020 ist dieses Feedback wenig befriedigend. Doch das stetig wachsende Team um Rebecca Brandt wird in der Sache weiter am Ball bleiben - sogar eine Online-Petition ist bereits im Gespräch. Frank Weiner