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Michel Friedman sieht im Antisemitismus „die größte Bedrohung“

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?Die Menschen denken in stereotypisierten Bildern, auch über Juden?: Michel Friedman im Interview.
?Die Menschen denken in stereotypisierten Bildern, auch über Juden?: Michel Friedman im Interview. © Hannibal Hanschke (dpa)

Frankfurts Bürgermeister Uwe Becker (CDU) hat Montag, 14. Mai, als Kippa-Tag ausgerufen. Am 14. Mai sollen alle Männer eine Kippa tragen und von 18 bis 19 Uhr auf den Römerberg kommen. Das symbolisiere das Einstehen gegen Gewalt und gegen die Diskriminierung von Juden. Unsere Mitarbeiterin Channah Trzebiner-Schmitt sprach mit Prof. Michel Friedman über das Ansinnen sowie über die Gefahr des Antisemitismus in Deutschland.

Herr Professor Friedman, erst kürzlich wurde ein jüdischer Junge in Berlin angegriffen. Der Antisemitismus in Deutschland nimmt zu. Wie fühlen Sie sich als Jude in Deutschland?

FRIEDMAN: Nach 1945 gab es keinen einzigen Tag in Deutschland ohne Nazis, ohne Antisemiten. Seit ich hier lebe, es sind über 50 Jahre, gab es immer wieder Wellen, in denen sie ihre hässliche Fratze unübersehbar zeigten. In diesen Zeiten waren viele Menschen überrascht, obwohl Judenhass etwas Alltägliches war und ist. Es gibt einen strukturierten Judenhass in Deutschland. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen sprechen von circa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Die Menschen denken in stereotypisierten Bildern, auch über Juden.

Woher kommt das?

FRIEDMAN: Dieser strukturierte Antisemitismus hat seinen Ursprung in dem Antijudaismus der Kirchen. Fast zweitausend Jahre wurde gepredigt, Jesus sei von Juden ermordet worden. Mit dieser Lüge beginnt die Verfolgungsgeschichte. Erst vor wenigen Jahrzehnten hat der Vatikan mit dem zweiten vatikanischen Konzil anerkannt, dass dies die Unwahrheit gewesen ist. Seitdem werden Brücken geschlagen.

Anscheinend hat das in der Gegenwart nicht viel bewirkt?

FRIEDMAN: Der Judenhass ist bis in die Gegenwart ein Teil der kulturellen Identität. Judenwitze sind immer noch Alltag. Jeden Samstag auf Fußballplätzen wird viel zu oft die gegnerische Mannschaft oder der Schiedsrichter als Judenmannschaft beschimpft. Verschwörungstheorien über „die Allmacht der Juden“ und ihre „Weltherrschaft“ hört man nicht nur bei AFD-Anhängern. Diese Formen der geistigen Brandstiftung, aber auch der tagtäglichen Gewaltausübung war, ist und bleibt für jüdisches Leben in Deutschland eine Bedrohung. Schon vor Jahrzehnten als das jüdische Gemeindezentrum in der Savigny-Straße eröffnet wurde, gab es einen Terroranschlag. Eine Autobombe explodierte. Dass die Sache glimpflich zu Ende ging, war der Tatsache geschuldet, dass wir den Bau der Gemeinde auf Empfehlung der Polizei hin mit Panzerglas ausstatteten.

In welchen Teilen der Gesellschaft ist Antisemitismus verstärkt zu finden?

FRIEDMAN: Judenhass ist alters-, geschlechts-, und religionsunabhängig. Nach wie vor ist der deutsche Antisemitismus die größte Bedrohung. Auch die Linksextremisten schwafeln von den Verschwörungstheorien, die eine Schnittstelle mit den Rechtsextremen darstellt. In den letzten Jahren ist eine weitere Gruppe hinzugekommen. Ein Teil der arabisch-muslimischen Flüchtlinge, aber auch ein Teil der hier seit Jahrzehnten lebenden deutschen Muslime, sind auffällig geworden. Die Flüchtlinge sind größtenteils aus Diktaturen nach Deutschland gekommen. Die Staatsräson dieser Diktaturen ist es, den Hass auf Israel als Identitätsgrundlage mitzuliefern. Israel ist der jüdische Staat. Also richtet sich der Hass auch gegen die Juden. Was mich allerdings besonders beunruhigt, ist der Antisemitismus der aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Nach Sarrazins Tabubruch und pseudo-wissenschaftlicher Begründung seiner Islamophobie, der Entstehung der AFD mit ihren ersten nationalistischen Spuren, die direkt in den Bundestag führen, ist die Uniform des rechtsextremistischen Nazis, nämlich die Springerstiefel und die Glatze, zum Anzug mit Krawatte oder gepflegten Kleid mutiert.

Seit Jahrzehnten wird von wehret den Anfängen gesprochen. Wo befinden wir uns?

FRIEDMAN: Wir befinden uns nicht mehr bei den Anfängen. Wir befinden uns mittendrin. Was muss eigentlich noch geschehen, damit die Gesellschaft begreift, dass zwar auch und vordergründig die jüdische Gemeinschaft und andere Minderheiten bedroht werden. Letztlich wollen die AFD und noch viel schlimmere Parteien unsere Freiheit, unsere Selbstbestimmung, unsere Demokratie durch autoritäre Strukturen ersetzen. Erst wenn die Mehrheit versteht, dass jeder und jede gemeint sind, also sie selbst auch, dass ein Angriff auf einen Menschen immer ein Angriff auf die Menschenwürde ist, wird es Reaktionen aus der Gesellschaft geben.

Herr Professor Friedman, kennen Sie viele jüdische Deutsche die aktuell nach Israel auswandern wollen?

FRIEDMAN: Die Diskussion, ob es richtig ist, in Deutschland oder Europa an eine Zukunft zu denken, hat zugenommen. In Europa regieren rechtsnationalistische Parteien mit. In Ungarn oder gar in Polen stellen sie die Regierungschefs. Dies sollte nicht nur Juden beunruhigen, sondern alle Europäer. In einem Teil der Bevölkerung Europas gibt es eine gefährliche Sehnsucht nach der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Motto: Früher war alles besser. Zur Erinnerung: Früher, das heißt zwei Weltkriege, beide von Deutschland begonnen. Früher bedeutet die Shoa, der größte menschliche Zivilisationsbruch überhaupt.

Sind Symbolismen wie der Kippa-Tag hilfreich?

FRIEDMAN: Ja! Der Antisemitismusbeauftragte der jetzt als Gegengewicht in allen Ländern auf all das was wir besprochen haben aus der Mottenkiste gezogen wird, ist besser als Nichts. Dahinter steckt allerdings der deutliche Hinweis, dass in den letzten Jahren die Politik nicht wach genug war. Das Symbol an sich, dass es einen Beauftragten gibt, ist selbstverständlich positiv. Übrigens so wie auch das „Kippatragen“ in Berlin und in Frankfurt positiv sind.

War die Aktion ein Erfolg?

FRIEDMAN: Wenn nur 3000 Menschen in Berlin zusammenkommen, muss man noch mehr nachdenken, in was für einer Zeit wir leben. Ich habe nichts gegen diese Symbolismen. Aber sie sind eben nicht mehr als ein Symbol. Sie dürfen nicht dazu führen, dass man sich dann wieder zurücklehnt und beim nächsten Vorfall wieder überrascht ist.

Herr Professor Friedman sie kämpfen seit Jahren gegen Antisemitismus, haben Sie manchmal den Eindruck Ihre Mühe ist umsonst. Sind Sie müde davon aufzuklären?

FRIEDMAN: Nein. Ich kämpfe nicht primär gegen Antisemitismus. Ich kämpfe aus tiefer Überzeugung für Humanismus und Demokratie! Nur wenn sich eine Gesellschaft aktiv und aus tiefer Überzeugung für die Würde des Menschen engagiert und umsetzt, was der Schriftsteller George Tabori mit „Jeder ist Jemand“ beschrieben hat, ist eine Gesellschaft lebenswert. Über 12 Prozent aller Deutschen haben ihre Stimme für ein Deutschland abgegeben, welches nicht möchte, dass jeder jemand ist, sondern damit wirbt, dass nicht jeder jemand ist. Ich bin überzeugt davon, dass man junge Menschen eher auf die Reise der Weltoffenheit, als auf die Reise der Ausgrenzung und des Hasses und der Diskriminierung mitnehmen kann. Ob ich müde bin, mich dafür zu engagieren? Nein.

Ist es notwendiger geworden sich zu engagieren?

FRIEDMAN: Ja. Vielleicht engagieren wir uns alle zu wenig für dieses unglaubliche Wunder von Freiheit, von Demokratie und Humanismus. Diese Werte sind kein Geschenk. Während wir anscheinend etwas müde sind, oder vielleicht nicht mehr so richtig verstehen was für ein Wunder die Demokratie ist, sind diejenigen, die die freiheitlichen Werte vernichten wollen, stärker geworden. Diejenigen, die lieber autoritäre, nationalistische und damit immer auch rassistische Konzepte pflegen sind wieder lauter geworden. Sie sind aber vielleicht so laut, weil die anderen so leise sind. Das ist die Auseinandersetzung der Gesellschaft die sich immer dynamisch bewegt. Die Motivation, sich dafür einzusetzen, was dann doch bedeutet, jede Stimme an dem dynamischen Wahlprozess zu beteiligen, zeigt sich an so einer existenziellen Frage wie dem Brexit. Man konnte an dieser Abstimmung sehen, wie wichtig doch jede einzelne Stimme ist.

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