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20 Quadratmeter voller Düdelsheimer Geschichten

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DÜDELSHEIM - Jede Menge Flaschen mit Eiswasser, Münzenberger Wein und Pokale stehen in und auf den Regalen. Ein „Määrt“-Plakat hängt an der Wand. Zwei Schaufensterpuppen in Schützentrachten und mit Sonnenbrillen rahmen ein mit Plastikfolie beklebtes Podest ein, das so etwas wie eine Theke darstellt. Wenn Walter Knaus für einen kurzen Moment dahintersteht und einen Kurzhaarschnitt abrechnet, dann wäre das ein Bild fürs Familienalbum:

Der 61-Jährige inmitten 20 Quadratmeter voller Düdelsheimer Geschichten. Der Junggeselle strahlt fortwährend, er weiß fast alles über Düdelsheim. Nicht nur, weil seine Kundschaft die Neuigkeiten auf den Frisörstuhl trägt, sondern weil er alle Ereignisse in Ordnern archiviert. Fragen zum Düdelsheimer Markt, zu den Schützen oder dem Fußball? Walter Knaus verschwindet kurz, kehrt mit Dokumenten wieder und grinst.

Die Eingangstüre bleibt offen. An diesem Freitagvormittag ist viel los. Herbert Henrich-Weisel sitzt auf dem Stuhl und lässt sich vom Meister den Bart frisieren. Der nächste Kunde steht bereits in der Tür. Ein weiterer setzt sich auf einen von zwei Warteplätzen. Fröhliche Musikanten dudeln aus dem Lautsprecher, der Ventilator brummt, die Männer erzählen.

Sperrstunde – das Thema

In wenigen Tagen ist „Dilsemer Määrt“, der 236. Diesmal mit Sperrstunde um 2 Uhr. Das ist Thema Nummer eins. Ein Unding sei es. Walter Knaus fordert einen Kunden auf, was zu erzählen. „Was soll ich denn do erzähle, dass alles amol schenner war?“ Warum denn? Weil es früher keine Sperrstunde gab. Also wieder die Sperrstunde. Für ältere Marktbesucher sei das nicht so schlimm. Die würden ja früher anfangen. Aber für die jungen Leute, die erst um elf kommen.

Wie war das denn früher? Walter Knaus geht kurz in einen kleinen Raum und kommt mit dem zweiten Ordner. Darin ist ein Bild von 1930, als der Markt noch am Seemenbach stattfand, dort, wo jetzt die Grundschule steht. Dann zeigt er ein Bild von sich im Alter von vielleicht sieben Jahren: kurze Hose, weißes Hemd und Seitenscheitel, geschniegelt und gestriegelt im Doppelstock-Karussell sitzend. Etwas schüchtern hält er die Zügel des Schimmels und lächelt verhalten in die Kamera. „Für die Kinder war das das Highlight“, erzählt Herbert Henrich-Weisel. Unten die Pferde, in der oberen Etage waren Sitzgelegenheiten. Man hielt sich an einem Metallgestänge fest und brachte das Teil zum Drehen. Bis sich alles gedreht hatte, nicht nur der Sitz.

Geschniegelt und gestriegelt erschienen die Marktbesucher früher. Das bedeutete für Vater Walter Knaus und seinen Sohn Walter jun. Hochbetrieb in der Woche davor. Am Sonntagmorgen erschienen die ersten Kunden wieder, um sich die Frisuren nochmals richten zu lassen. Nach dem Markt machten Vater und Sohn Betriebsferien. „Dann kommt erst mal keiner mehr, die haben sich alle schon die Köpp gemacht“, hatte der Vater immer gesagt. 67 Jahre besteht das Geschäft in der Straße „Am Hofacker 2“.

Ein weiterer Unterschied zu heute: Die Mädchen und Frauen trugen züchtige Kleider, die Männer ihre Anzüge. Die „Määrt“-Klamotten sind zum Teil extra geschneidert worden. Voller roter Staub war die Kleidung, als die Veranstalter einmal den Grasboden mit einer Art roten Schlacke, wie man es von Tennisplätzen kennt, präparierten. Später änderte sich die Kleiderordnung. Jeans hielten Einzug, der rote Boden ist schließlich durch einen Holzboden ausgetauscht worden.

Hemdsärmelig ging es bei Schlägereien zu. „Die waren gang und gäbe. Da galt noch das Faustrecht“, erzählt Harald Groth aus Lindheim nebenbei. Meistens sei es um Fußball gegangen. Drei Worte hätten ausgereicht, dann „batsch, batsch, batsch“.

Früher spielten die „Teddys“ von Freitag bis Montag auf, heute sind es sieben Kapellen, erzählt Herbert Henrich-Weisel. Sein Bart nimmt Konturen an. Zehn Jahre war er als Kellner auf dem Markt unterwegs. Wenn die Bedienungen heute mit Kugelschreiber und Zettel die Bestellung aufnehmen, verzieht er das Gesicht. „Unsere Körbe waren immer voll. Es gab keine Leerfahrt. Das haben wir von den großen Kellnern gelernt.“ Wer bestelle denn schon ein Glas? Früher gingen nur Körbe.

„Wie Weihnachten“

1781 gilt als Geburtsstunde des früheren Krämer- und Viehmarkts. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sorgten zwei Marktmeister für Ordnung auf dem Markt. Zu seinen Kindertagen waren es drei Marktmeister, an die sich Herbert Henrich-Weisel erinnert. Vier oder fünf Kneipen hatten während des Marktes geöffnet und boten Mittagessen an. Beim Metzger Raab gab es Würstchen, die Bäckerei Belz hat Kuchen gebacken. Montags aß man auf dem Markt Sauerkraut mit Rippchen. Heute sei das ein einziger großer Imbiss, bedauert Henrich-Weisel, es gebe vor allem Pommes und so einen „Schnickschnack“. „Es is lang net mer des, was es früher mal war.“ Die Vorfreude sei immer groß gewesen. „Der Määrt war das Ding der Dinge. Fast wie Weihnachten“, ergänzt Walter Knaus freudig. Auch wenn er es nicht zugeben will: Etwas Advent scheint doch in seinem Gesicht. Der Markt ist und bleibt lieb gewonnene Tradition.

Albert Gerhardt will auch noch an die Reihe. Wo er hinkomme, sei er mit seinen 92 Jahren meist der Älteste, sagt er. Dass er nicht mehr so gut hört, erweist sich während des Markttreibens als Vorteil. Denn der Markt, bemerkt er, sei immer sehr laut. Am schönsten sei es immer nach zwölf gewesen. „Dass die da jetzt so ein Theater machen...“ Aber man werde ja nicht gefragt. Den Gottesdienst will der Rentner auf jeden Fall besuchen, kündigt er an. Jetzt gibt es erst mal „Knause-Walter-Haarschnitt“. Für den Gottesdienst, versteht sich.

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