Ab jetzt hilft nur noch Beten

Entspanntes Zurücklehnen war über 120 Minuten schlichtweg nicht möglich. Die Jahresendabrechnung des begnadeten Ensembles Schlachtplatte um den Kölner Kabarettisten Robert Griess fiel in der Waldsiedlung köstlich derb, bunt und bissig aus.
Wohl kaum ein Jahr der jüngsten Zeit bietet Kabarettisten so viel Stoff für einen vielschichtigen Rückblick wie 2022. Entsprechend bunt und bissig, schonungslos und hoffnungsvoll, amüsant und nachdenklich fiel die Jahresendabrechnung des Ensembles Schlachtplatte um den Kölner Kabarettisten Robert Giess im Dorfgemeinschaftshaus der Waldsiedlung aus.
Als Notarztteam unterzog das Quartett, bestehend aus vier brillanten Solisten, die abgelaufenen zwölf Monate einer schonungslosen Betrachtung und Diagnose, die das Publikum mehr als zwei Stunden lang lachend in Atem hielt. Gemeinsam mit seinen kongenialen Kollegen Sebastian Schnoy (»Unehelicher Sohn von Karl Lauterbach«), Jens Heinrich Claassen (»Pianist und Ghostwriter der Prinz-Harry-Biografie«) und Kathi Wolf (»Psychologin und Expertin für Genderstudies«) stieg Robert Giess als »Farb- und Stilberater von Marie-Agnes Strack-Zimmermann« in einen atemberaubenden Parforceritt von Berlin nach Bayerisch-Schwaben, von Lützerath zur Letzten Generation, vom Ukrainekrieg und der Bundeswehr zu den Reichsbürgern um Heinrich XIII. Prinz Reuß, von Queen Elizabeth bis Papst Benedikt und seine Kirche ein. Soloparts, Ensembleeinlagen, Klavierstücke, Dialoge und direkte Publikumsansprache folgten so temporeich aufeinander, dass ein entspanntes Zurücklehnen über 120 Minuten schlichtweg nicht möglich war.
Sprachliche Fallstricke
Jens Heinrich Claassen, bekennender Millionär ohne finanzielle Sorgen, aber auch ohne Familie und daher auf Tinder unterwegs, nahm sich das Thema Hektik und Effizienz vor und kombinierte sein heimisches Badewasser mit einer Buchstabensuppe, um parallel zur Körperpflege neue Wörter entdecken zu können. Kathi Wolf unterzog die weiblichen Mächtigen der Welt einer präzisen Analyse, plädierte gegen eine Erhöhung weiblicher Einflussnahme in Politik und Gesellschaft per bloßer Quote und versuchte, als einfühlsame Psychologin alte weiße Männer mit ihren Gefühlen zu konfrontieren. Zudem genderte sie sich derart virtuos durch sämtliche sprachliche Fallstricke, dass wohl allen Anwesenden auf witzige Weise klar wurde, warum Worte und Sätze Frauen sichtbar machen sollten.
Als strafversetztes Bundeswehrbatallion an der polnisch-ukrainischen Grenze stellten die drei Männer wiederum fest, dass der Krieg immer eine Sache selbsternannter Alpha-Menschen ist, die sich untereinander kennen und ihre jeweiligen Soldaten dazu zwingen, einander zu töten, obwohl sie einander nicht kennen. Die Bundeswehr als Ganzes sei aufgrund ihrer Ausrüstung nicht einmal in der Lage, einem Angriff der örtlichen Düdelsheimer Jugend auf Tonis Pizzeria entgegenzutreten. Da sei es wiederum beruhigend, »dass die Russen mit ihren Panzern aktuell ohnehin nur bis Berlin kämen, da sie dann an den auf der Straße Festgeklebten der Letzten Generation scheitern würden.«
Genial das Mini-Musical live aus dem ICE 2324 und die satirische Massenszene in Berlin, bei der Reichsbürger auf Autonome und einen Junggesellinnen-Abschied von Kölner Jungfrauen stoßen, und der Rechtfertigungsdialog des Grünen mit seinem pubertierenden Sohn Titus Aurelius über die Frage, warum seine Partei jetzt für Waffenlieferungen, für Atomkraft, für Braunkohle, aber auch für den Erhalt des Dorfes Lützerath sei.
Fernöstliche Arbeiterhymne
Sebastian Schnoy setzte sich als Vater mit der geballten Mädchenpower seiner beiden Töchter auseinander, stellte ebenfalls fest, dass der Russe hierzulande nicht weit käme - diesmal aufgrund der maroden Infrastruktur von Straßen und Brücken - und bat das Publikum abschließend, die fernöstliche Arbeiterhymne »Drei Chinesen mit dem Kontrabass« zu intonieren sich und dergestalt auf weitere Firmenübernahmen durch das Reich der Mitte vorzubereiten.
Bevor das Ärzteteam gemeinsam feststellte, dass der Patient 2022 unter Klimaschwankungen gelitten habe, griff man rasch noch Robert Giess als schmerzgeplagtem AOK-Kassenpatient unter die Arme und ließ sich von ihm umgekehrt einige Tatort-Leichen in den Keller legen. Zum Abschluss wagte man einen kritischen Blick in die Zukunft des neuen Patienten 2023 und stellte fest: »Alles wird gut - ab jetzt hilft nur noch Beten.«
Begeisterter Applaus verriet, dass das Ensemble seinem Publikum aus dem Herzen gesprochen, mit seiner Show viel Sorgen und Ängste benannt und ihnen gleichzeitig eine Attitüde von Leichtigkeit und Hoffnung beigegeben hatte.