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Amore mio - meine Liebe

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»Ihr Cappuccino, prego!« - Ich schaue in das Gesicht von Fabio und sehe ein Lächeln. »Vielen Dank«, sage ich. Schon eilt er zum Nachbartisch. Ich hebe die Tasse an, nippe und sehe etwas rot-gold Glänzendes. »Amore Mio« lese ich auf der Verpackung des Caramel-Cookies, der auf dem Unterteller vor mir liegt. »Meine Liebe«. Und tatsächlich, ich liebe es, eine Pause im Alltag einzulegen, mich rauszunehmen, Augen und Ohren für das zu haben, was oft zu kurz kommt.

Plötzlich steht sie neben mir, schleckt an einer kühlen Kugel. »Gott ist wie Schokoladeneis?«, fragt sie unvermittelt und schaut mich mit ihren großen, strahlenden Kulleraugen an. Wollte das kleine Mädchen mit dem Wuschelkopf tatsächlich eine Antwort von dem Unbekannten, der gerade noch über »Amore Mio« gegrübelt hatte? Ob Gott wie Schokoladeneis ist? Unwillkürlich ziehen Bilder vor meinem inneren Auge vorbei. Kürzlich erst hatte ich in dieser Rubrik gelesen »Gott ist wie WLAN«. Warum nicht? Als Theologe habe ich mich natürlich oft und ausführlich damit beschäftigt, wie man sich Gott vorstellen könnte. Aber dass Gott wie Schokoladeneis sein soll? Ich habe mal in einem Lied getextet »Gott ist mein Lied«. Vor Jahren schrieb ich Gedanken nieder, dass Gott Liebe sei. Amore mio - meine Liebe. Was könnte ich auf diese schwierige Frage antworten?

»Weißt Du, Gott ist vielleicht nicht wie dein leckeres Schokoladeneis. Doch Gott könnte wie das tolle Gefühl sein, das Du gerade hast, wenn Du Dein Schokoladeneis schleckst.« Die knapp Sechsjährige lächelt mich verlegen an und ich schenke ihr »Amore Mio«. Schnurstracks läuft sie zu ihrer Mutti, die schon an der nächsten Ecke wartet. Ich nippe wieder an meinem Cappuccino und frage mich: »Woran glaube ich? Wie sehe ich Gott genau in diesem Augenblick? Als einen, der mich durchs Leben trägt? Der mich so nimmt, wie ich bin? Der für mich stets da ist und mir zuhört?« - Irgendwie scheint alles zuzutreffen. Gott ist für mich einer, der mir zuhört und mir nicht gleich ins Wort fällt. Zu dem ich jederzeit sprechen kann. Einer, der mich liebt und den ich liebe.

Ja, das ist mein Bild von Gott: Dass er sich besonders der Unmündigen, Zweifelnden, Geringen und Armen annimmt, die heute nach wie vor überall unterdrückt und ausgegrenzt werden, und gerade für sie ein offenes Ohr hat. Dass er auf der Seite derer ist, die sich in Liebe und Treue, in Fürsorge und Verantwortung füreinander zusammenfinden. - Klar, das sind meine Vorstellungen, die aus persönlicher Erfahrung herrühren und in diesem Moment auch Gewissheit sind. Gott ist mir nahe. Und das ist mein Glück. Doch es könnte auch anders sein.

Manchmal hatte ich das Gefühl gehabt, ich kann nicht mehr - obwohl ich doch eigentlich müsste. Gehe unter, unter all dem Druck. Menschen warten auf mich, Termine wollen erledigt, Versprechen erfüllt werden… Höre die Stimme in mir, um mich herum: »Du solltest aber … du denkst doch nicht etwa, das tut man doch nicht…“ Blicke zurück: Geweint, getrauert, schwach gefühlt. Blicke auf andere: Gesundheit, Erfolg, Geld. - Ungerechtigkeit pur! - So oder ähnlich mag es dem Beter des 73. Psalms vorgekommen sein, der vor weit über 2000 Jahren Blicke in sein angefochtenes Herz zuließ. Düster waren seine Gedanken, als er auf seine Mitmenschen, sein Volk schaute: »Da reden sie großspurig daher, triumphieren über andere, machen sich nichts aus Gott, lästern auch noch über ihn. Und werden zu guter Letzt auch noch von Erfolg gekrönt.« Aber ist das heute anders? Haben nicht diejenigen die Macht, die rücksichtslos nur ihre eigenen Interessen verfolgen? In die Privatsphäre anderer eindringen? Ist in unserem persönlichen Umfeld nicht oft der Ehrliche der Dumme? Ich kann die Gedanken des Psalmbeters nur allzu gut nachempfinden. Doch er bleibt nicht bei seinen quälenden Grübeleien hängen. Er merkt, dass ihn dieser Blick auf die anderen zerstört, ihn von Gott entfernt. Er nimmt wahr, wie brüchig der Boden ist, auf dem die Gottfernen stehen. Er weiß doch aus eigener Erfahrung, wie schnell es gehen kann, dass aus Glück Leid wird. Dass die Glückssträhne reißen kann. So erkennt er, auf welchen Grund er im Leben bauen kann. »Gott nahe zu sein, ist mein Glück!« Was wirklich für ihn zählt, ist Gottes Nähe. Sie ist gut für ihn. Sie ist seine Freude und sein Glück.

Und was ist gut für mich? Gut für meine Freude? Worin besteht mein Glück? »Amore Mio«. Gott nahe zu sein, macht mir Mut, bei allen Forderungen, die an mich herangetragen werden, auch einmal »Nein« zu sagen. Eine Ruhepause einzulegen. An die Möglichkeiten und Chancen zu denken, die das Leben mir bietet. An erster Stelle Gott, dann die anderen und dann ich. Auf einmal habe ich Zeit. Für den Menschen neben mir. Wir hören aufeinander und einander zu. Weil ich aufhören kann. Abschalten. Damit wird die Welt nicht besser. Die Menschen nicht netter. Aber meine Sicht ändert sich: Wichtig bist du. Bin ich. Sind wir. Ist Gott. - Ich bestelle bei Fabio noch einen Cappuccino mit »Amore Mio« und ein Eis mit zwei Kugeln - Stracciatella und Pistazie. Mal sehen, ob die wie Gott sind? - In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Wochenende. Ihr Gert Holle.

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Gert Holle ist Theologe und Referent für Öffentlichkeitsarbeit im evangelischen Dekanat Büdinger Land.

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