Augenscheinkarten: Ein bisschen wie Google Maps

Augenscheinkarten sind wahre »Wimmelbilder«. Dr. Anette Baumann hat über diese besonderen (Land)Karten ein Buch geschrieben. Die Professorin lebt in Friedberg.
Augenscheinkarten kann man sich vereinfacht wie Google Maps vorstellen. Sie waren Entscheidungshilfen für Richter bei der Zivil-Prozessführung. Es sind detailgetreue, maßstabsgerechte (Land)Karten, die zwischen 1495 und 1806 am Reichskammergericht zunächst in Speyer und ab 1690 in Wetzlar entstanden. Die in Friedberg lebende und an der Uni Gießen lehrende Geschichtsprofessorin Dr. Anette Baumann lässt diese faszinierenden »Wimmelbilder« in ihrem neuen Buch lebendig werden.
Ein »Coffee-Table-Book« nennt Anette Baumann ihr im Herbst erschienenes Buch »Karten vor Gericht - Augenscheinkarten der Vormoderne als Beweismittel«. Das ist ein Buch, das man drehen, herumreichen, von allen Seiten betrachten und dabei häppchenweise genießen kann: 220 Seiten Text und 86 Abbildungen, spannend zu lesen. Baumann versteht es, anschaulich zu schreiben, praktische Beispiele einzuflechten und regt zum Ausprobieren an.
Richter muss um Karte herumgehen
So erfährt man ausführlich, was seit der Auflösung des Reichskammergerichts - das war das höchste Gericht des Heiligen Römischen Reiches - 1806 in Archiven schlummerte. Baumann begleiten diese zum Teil von bekannten Künstlern gemalten Karten und die dazugehörigen Prozessakten seit ihrer Doktorarbeit in München Anfang der 1990er Jahre.
Augenscheinkarten kann man sich vereinfacht wie Google Maps vorstellen. Gab es zum Beispiel einen Prozess über Grenzverläufe, Jagdstreitigkeiten, Konkurrenzverhalten oder die Blutgerichtsbarkeit - also ob jemand von dem Richter diesseits oder jenseits der Grenze verurteilt werden durfte - dann brachten die Parteien ihre jeweiligen Augenscheinkarten bei. Sie sollten dem Richter einen möglichst genauen Eindruck über die räumliche Situation oder das Produkt verschaffen. Mithilfe dieser aufwändigen Darstellungen, die durch Zeugen protokolliert und vom Maler beeidet wurden, konnte der Richter Büsche und Bäche, Hügel, Häuser, ja sogar die gesamte durch das Gelände wandernde Kommission erkennen.
Die größte Augenscheinkarte ist zwölf Quadratmeter groß und wird in einem eigenen Saal in Hamburg ausgelegt. »So eine Karte war ein elitäres Produkt, mit dem man den Richter beeindrucken wollte«, erklärt Baumann. Sie waren so gemalt, dass der Richter sich mit seinem Körper drehen oder um die Karte herumwandern musste, um alles Abgebildete in Augenschein nehmen zu können. Daher sind sie auf den ersten Blick auch so verwirrend.
Baumann unterscheidet zwischen dem »wandernden Blick« als ob jemand einen Weg durch das Gelände ginge und dem »drehenden Blick«, bei dem man in der Mitte des Bildes steht und sich um die eigene Achse dreht. Dann gibt es noch den »statischen oder körperlosen Blick« auf einer gemessenen Karte wie sie heute üblich ist.
Eine im Buch abgebildete Besonderheit ist eine optische Verzerrung (Anamorphose), wobei man das konkrete Bild nur aus einen bestimmten Blickwinkel erkennt.
Im 18. Jahrhundert kamen Konkurrenzprozesse auf, wie der in Frankfurt. Dabei klagte der Besitzer eines im Main liegenden Badeschiffs gegen einen Badehausbesitzer am Mainufer wegen Qualitätsvorteilen. Dazu wurde in der Augenscheinkarte auch das Schiff abgebildet. »Wie die Prozesse ausgingen, weiß man nicht so genau«, erzählt die Historikerin, »denn das Motto des Reichskammergerichts - heute wäre es das Bundesverfassungsgericht - war ›Frieden durch Recht‹. So kam es oft zur gütlichen Einigung.«
Wetterau ist nicht verzeichnet
Für das Buch fuhr Baumann in alle Himmelsrichtungen, um aus den Archiven 200 Stichproben der verstreuten 80 000 Prozessakten in alter Handschrift und zum Teil lateinischer Sprache zu lesen. Ihre größte Prozessakte stapelte sich auf fünf Meter. »Man muss beides zusammen betrachten, denn ohne Karte kein Verständnis der Akte und ohne Akte kann man die Karte nicht erklären«, betont sie. Daher ist aus der Wetterau im Buch nichts verzeichnet. Denn als bei der Auflösung des Reichskammergerichts die Akten in die Archive der damals existierenden Staaten kamen, wurden die in Darmstadt gelagerten vernichtet.
Lehrt an Uni Gießen
Dr. Anette Baumann (Jg. 1963) studierte Mittelalterliche und Neuere Geschichte sowie Kunstgeschichte in Heidelberg und München. Seit 1996 leitet sie die Forschungsstelle zum Reichskammergericht in Wetzlar und seit 2009 ist sie Professorin an der Universität Gießen.
Das Buch »Karten vor Gericht - Augenscheinkarten der Vormoderne als Beweismittel« ist bei der Buchhandlung Bindernagel in Friedberg erhältlich oder zu bestellen bei wbg-academic Darmstadt (ISBN: 978-3-534-27609-7).