Auf Spurensuche in die Heimatstadt

Viele ältere Menschen zieht es zurück in die Heimat, um mit dem Abstand von Kindheit und Jugend diese zu reflektieren. So auch Horst Becker, der im hohen Alter noch einmal die Reise in seine Geburtsstadt Bad Nauheim angetreten ist. Dabei hat der pensionierte Pfarrer seine Erinnerungen humorvoll zu Papier gebracht.
Auf meine Geburt im Weltbad Nauheim bin ich stolz!«, so beginnt Horst Beckers Reiseszene, in der es um seine Heimatstadt geht. Geboren wurde er 1926, sein Vater war Studienrat an der Ernst-Ludwig-Schule. Neben den Beckers im Eleonorenring 8 wohnte die Lehrerfamilie Henß. Werner Henß, bereits 1945 beim Trümmerräumen gestorben, und Klassenkamerad Kurt Aletter waren dicke Freunde. Traudel, die Jüngste der Henß-Geschwister konnte den Kontakt zu Horst Becker nach vielen Jahren wieder beleben.
Ich treffe den jetzt fast 97-Jährigen in seinem Haus im fränkischen Neuendettelsau, wo er mit seiner zweiten Frau Martha seit Jahrzehnten lebt. Ein liebenswürdiger alter Herr mit lachenden, allerdings nahezu erblindeten Augen. Das Alter hat auch sonst Spuren hinterlassen, so dass seine Frau die kleinen Sprachlücken schließt.
Mission in Tansania
Becker hatte Glück im Krieg. Er hatte sich nicht freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, als die ganze Klasse eingezogen wurde. So wurde er auch nicht in die Partei überführt und konnte, nachdem ihm und seinen Klassenkameraden »die Reife erteilt« war - Abiturprüfungen gab es in dieser Zeit nicht - in Gießen und später in Marburg Theologie studieren. »In Bad Nauheim fand kein Kirchenkampf statt«, erzählt er, »denn man durfte die Leute im Herzheilbad nicht aufregen. Aber sie guckten genau, wer in die Kirche ging.« Jede freie Minute half er im Pfarrhaus, zog im ersten Studiensemester mit der Laienspiel-Jugendgruppe durchs Land, wo sie von den Bauern »was Anständiges zu essen bekamen«.
Als mutig will sich Horst Becker nicht bezeichnen. »Ich habe immer das gemacht, was mir einleuchtete«, sagt er auf die Frage nach seiner Missionstätigkeit in Tansania. Mit zwei kleinen Kindern trat er den Dienst an, zwei weitere wurden dort geboren. Reisen in die Heimat waren für die junge Familie nicht möglich. Nur einmal begleitete er 1961 den ersten tansanischen Bischof quer durch Deutschland und führte ihn auch in sein Bad Nauheimer Elternhaus.
Sehnsucht nach Hessen hatte Becker damals nicht. »Er hatte nur drei Bedenken vor der Abreise«, weiß seine Frau, die tief in seine Biografie eingetaucht ist. »Werde ich die Sprache lernen? Gibt es dort Kartoffeln? Was mache ich, wenn ich einer Schlange begegne?« Die Landessprache Kisuaheli lernte er so schnell, dass er schon bald darin predigte und sie noch heute spricht. Kartoffeln wuchsen auch unterm Kilimandscharo, und die erste Schlange entpuppte sich als harmlos. Beide lachen.
Wegen der kirchlichen Berufung in andere Ämter kehrte Horst Becker nicht mehr in die »Werrerraa« zurück. Aber die Lust auf Entdeckungen in der Region blieb und die Freude daran, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Bei einem Besuch des Keltenmuseums am Glauberg habe er den Herrn hinter der Theke gefragt, ob er hier Ureinwohner sei. Dieser erwiderte kurz: »Ei jo« und »Wo komme Sie dann her?« Selbstbewusst antwortete Becker: »Bad Nauheim.« Damit hoffte er »Bruderschaft und Einvernehmen hergestellt zu haben als wirklich gleichgesinnte Landsleute«. Weit gefehlt! »Ach Gott. Da sin Sie jo Sklave von dene Reemer gewese.« Becker war verblüfft: »Wir lebten hinter dem Limes und handelten sehr friedlich mit Salz.«
Als er in Bad Nauheim »einfuhr«, habe er schmunzelnd festgestellt, dass an seinem Geburtshaus noch keine Gedenktafel angebracht sei. Die Erinnerung wird wach an die Schrebergärtchen nebenan, wo er einst Frührentner Ostheimers Gartenkünste bewundert hat: »Besonders beeindruckte mich, wenn er mit einem Joch über den Schultern zwei Wassereimer aus dem Ziehbrunnen holte, um sein Gemüse zu begießen. Gegenüber führte ein Schäfer seine Herde auf der Streuobstwiese aus, und wir Kinder durften die Schäfchen streicheln.«
In der Nachbarschaft befand sich »die Lioba«. »Als die Schule 1938 aufgelöst wurde, kamen sechs zwölfjährige Damen in unsere Jungenschule - ein wichtiges Ereignis«, vermerkt er. Er passiert das »gewaltige Postamt und die Trinkkuranlage, wo während des Krieges das im Grand Hotel internierte Botschaftspersonal ausgeführt wurde«. Auch die Gradierbauten wecken Erinnerungen: »Wir Kinder kletterten die Aufbauten hinauf und versteckten uns in den dunklen Gängen. Aus dem Stand über das Solgräbchen zu springen, glich einer Mutprobe.«
Weiter heißt es: »Für mich persönlich erhebt sich in unmittelbarer Nähe zu den Ausgrabungen der vorgeschichtlichen Salzgewinnung ein Ort von lebensentscheidender Wichtigkeit, die Dankeskirche. Hier wurde ich getauft, 1940 von Pfarrer Knodt konfirmiert und hielt selbst im Krieg Sonntagsschule.« Zur Kronjuwelen-Konfirmation (75 Jahre) und zur Beerdigung seines Jugendfreundes Kurt Aletter kehrte er noch einmal zurück. Ein Streifzug durch die Kirche mit dem Blick des Theologen verrät: »So wie die Bad Nauheimer Heilwasser wirken, hilft die richtige Musik, wenn sie die Seele anspricht, zur Genesung.«
Und zum Abschluss, wie damals mit den Klassenkameraden, auf den Johannisberg fahren und »die Römerrelikte erobern mit dem Blick bis bald nach Frankfurt: Das ist also Heimat!« Allerdings gelang dem Betagten der Aufstieg zum Gipfel des Wintersteins, wo einst seine schwangere Mutter kurz vor seiner Geburt ausgeruht hatte, nicht mehr: »Unzureichendes Schuhwerk und das Alter!« resümiert er dankbar und zufrieden.