Das Konzept der »Lebenswelt«

Bad Nauheim (gk). Worin besteht das Wesen, die Substanz der Dinge? Vor allem anderen darin, dass sie uns erscheinen, das heißt, als »Phänomene« gegeben sind. Menschliches Bewusstsein ist immer »intentional«, das heißt auf diese Phänomene gerichtet.
Wer das Wesen der uns als Phänomene, das heißt, Erscheinungen gegebenen Dinge ergründen will, muss von allen lieb gewordenen Denkgewohnheiten, psychologisch-empirischen wie auch metaphysischen Setzungen Abschied nehmen. Dies nennt Edmund Husserl, Begründer der Phänomenologie, »Epoche« - was im ursprünglichen Wortsinn so viel wie »Einschränkung« bzw. »Einklammerung« bedeutet.
Unter dem Motto »Zu den Sachen selbst!« hat der 1859 im mährischen Proßnitz geborene Spross eines deutsch-jüdischen Elternhauses ein ganzes Forscherleben lang in zahllosen Veröffentlichungen und Aufzeichnungen dieses Problem umkreist.
Am Beispiel seiner Spätschrift »Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« aus dem Jahr 1936 (Husserl stirbt zwei Jahre später) skizzierte Prof. Heiner Klemme von der Universität Halle-Wittenberg am Dienstagabend im Rahmen der »Philosophischen Reihe« die Hauptziele von Husserls Phänomenologie.
Ein biografischer Bezugspunkt zwischen ihm und Husserl sei, so der Referent, dass dieser 1887 im Alter von 28 Jahren eine Stelle als Privatdozent für Philosophie an der Universität Halle erhält, die er bis 1901 bekleidet.
Hauptfrucht dieser schöpferischen vierzehn Jahre sind seine 1900/01 erschienenen »Logischen Untersuchungen« - ein über tausendseitiges epochemachendes Werk, das sich die »Reinigung« der Logik von allem psychologistischen Beirat zum Ziel setzt. Die geistes- bzw. kulturgeschichtliche Bedeutung Halles liegt, so Prof. Klemme, in seiner Eigenschaft als ein Zentrum des deutschen Pietismus und der Frühaufklärung um 1700. Dafür stehen Personen wie der Philosoph Christian Thomasius oder der Theologe August Herrmann Francke, Begründer der nach ihm benannten, bis heute bestehenden philanthropischen Stiftung.
Husserl tritt kurz vor seinem Wechsel von Wien nach Halle als 27-Jähriger zum Protestantismus über und zeigt sich vom Hallenser Pietismus tief beeindruckt. Hier scheinen Glaube und Vernunft eine schöpferische Symbiose eingegangen zu sein.
Radikale Kritik
In seiner o. g. »Krisis«-Schrift wartet Husserl mit einer radikalen Kritik am falschen Objektivismus der modernen Naturwissenschaften auf.
Die (Wahn-)Idee einer totalen wissenschaftlichen Objektivierung bzw. »Mathematisierung« der Welt trage zu deren fortschreitender Sinnentleerung und ihrer wachsenden Unmenschlichkeit bei. Diesem falschen Objektivismus setzt der 77-Jährige sein Konzept der »Lebenswelt« entgegen.
Das ist, so Prof. Klemme, der heroische Versuch der Rettung eines umfassenden Vernunftbegriffs: Rationalität statt Rationalismus. Der lebenslange Sucher war bereits 1933 von den braunen Machthabern zwangsemeritiert worden.
Lebenswelt: Das ist für Husserl - kurz gesagt - der alle subjektiven Horizonte umgreifende allgemeine Horizont menschlichen Erkennens und Handelns. Sie ist das Gesamt der vortheoretischen Alltagswelt, die von der sogenannten exakten, das heißt, positivistischen Wissenschaft ignoriert wird.
Dass Husserls emphatischer Vernunftbegriff nur vor dem Hintergrund seiner tiefen Glaubenszuversicht verstanden beziehungsweise gewürdigt werden kann, zeigte Prof. Klemme am Ende seines mit viel Beifall bedachten Vortrags auf.