Das Leiden der Seele: Bad Nauheimer Experte spricht über Depressionen

Die dunkle Jahreszeit rückt näher, bei vielen Menschen wird die Stimmung trüb. Doch Depressionen hängen selten von der Jahreszeit ab. Der Bad Nauheimer Prof. Tibo Gerriets im Gespräch.
Treten Depressionen, jetzt, da es Richtung dunkle Jahreszeit geht, vermehrt auf?
Ja, das sehe ich jedes Jahr in unserer Praxis, wobei das Problem meistens in der zweiten Winterhälfte auftritt. Die Leute halten eine Weile durch, aber spätestens Februar, März haben wir einen deutlichen Peak an Patienten. Man muss unterscheiden: Es gibt die echte Winterdepression, die wirklich zuverlässig alle Jahre wieder durch die dunkle Jahreszeit ausgelöst wird. Das ist relativ selten. Und dann gibt es die klassischen Depressionen, die bei Lichtmangel auch schlechter werden.
Das heißt, es sind Patienten, die schon eine Depression haben, bei denen es sich dann verschlechtert?
Die echte Winterdepression entsteht tatsächlich durch Lichtmangel, aber alle anderen Depressionen sind meistens multifaktorielle Geschehen. Da gibt es unterschiedliche Risikofaktoren. Und dann kommt der Winter noch oben drauf.
Und die Winterdepression löst sich automatisch wieder auf, wenn es Frühling wird, alles blüht und es länger hell ist?
Ja, viele Patienten berichten das so. Dass sich ab Mai, wenn es wieder heller wird, sie viel im Freien sind, die Depression legt.
Wie merke ich denn, dass ich depressiv bin?
Die Hauptkriterien sind depressive Stimmung, Antriebs- und Interessenverlust. Wobei die depressive Stimmung auch komplett fehlen kann. Es gibt Patienten, die einfach nur sagen: »Ich habe keinen Antrieb, keine Lust, freue mich auf gar nichts, aber traurig bin ich nicht.« Auch wenn solche Symptome auftreten, sollte man zumindest mal mit seinem Hausarzt sprechen.
Kann man als Betroffener eine Depression leicht übersehen?
Ja, das ist so. Die Depression gehört zu den Erkrankungen, die massiv unterdiagnostiziert und unterbehandelt sind. Das liegt auch an Patienten selbst, die nicht so gerne mit einer psychiatrischen Verdachtsdiagnose zum Doktor gehen.
Aber kann es auch passieren, dass man es selbst gar nicht als Depression wertet? Wenn man zum Beispiel keinen Antrieb hat?
Ganz genau, da habe ich auch manchmal Diskussionen mit Patienten, denen ich sage: »Nehmen Sie mal ein Antidepressivum oder machen Sie eine Psychotherapie.« Und der Patient sagt dann: »Ich bin doch gar nicht traurig.« Hinzu kommt, dass Depressionen sehr oft auch körperliche Symptome auslösen können. Häufig gehen die Patientinnen und Patienten dann wegen »unerklärlicher« Kopfschmerzen, Verdauungsproblemen oder Schlafstörungen zum Arzt. Dann ist es - für Patient und Ärzte gleichermaßen - oft schwierig, die richtige Diagnose zu stellen.
Sind bestimmte Menschen besonders von Depressionen betroffen?
Es zieht sich ziemlich gleichmäßig durch die Bevölkerung, wobei Frauen im Durchschnitt häufiger betroffen sind. Grundsätzlich sind Junge und Alte betroffen. Zurzeit behandele ich sogar ausnahmsweise Kinder, weil die Kinderpsychiater nicht mehr hinterherkommen. Das ist sicherlich auch eine Folge der Corona-Pandemie.
Spielt die geistige Auslastung oder Belastung eine Rolle? Sind Menschen, die über alles sehr viel nachdenken, eher betroffen?
Mit Bildung und intellektueller Leistungsfähigkeit hat es - glaube ich - wenig zu tun. Ich sehe aber immer wieder bestimmte Muster. Es sind Menschen, die sozial überlastet sind. Zum Beispiel eine ältere Dame, deren Ehemann eine Demenz entwickelt. Das ist eine 24/7-Belastung. Er fällt als Partner aus. Der geschützte Raum der eigenen Wohnung fällt weg. Wenn das über Jahre geht, werden auch die stabilsten Leute depressiv. Das andere große Feld ist die berufliche Überforderung.
Wo ist die Grenze zum Burn-out?
Der Begriff Burn-out kommt in der Medizin gar nicht offiziell vor. Patienten, die mit Burn-out zu mir kommen, haben meistens eine Depression.
Man kann aber auch eine Depression haben, wenn man normal ausgelastet oder gar unterfordert ist, oder?
Ja, das Burn-out kann auch depressiv machen. Und es gibt Patienten, bei denen man eine klare Ursache nicht fassen kann.
Inwiefern können schlimme Ereignisse ein Auslöser oder ein Verstärker für eine Depression sein?
Gerade bei Todesfällen im näheren Angehörigenkreis ist die Abgrenzung zwischen normaler Trauerreaktion und Depression schwierig. Posttraumatische Belastungsstörungen z. B. nach Unfällen haben auch depressive Komponenten. Aber diese Menschen gehen eher mal zum Arzt.
Weil sie eine greifbare Ursache haben?
Ja, aber sie haben meistens eine kurze depressive Schwankung und stabilisieren sich oft ohne Therapie.
Kommen wir zum Thema Prävention. Kann ich einer Depression vorbeugen?
Da kann man viel tun. Einsamkeit ist einer der wichtigsten Risikofaktoren. Da wäre ein Rat: soziale Kontakte suchen, in Vereine reingehen. Ich rate meinen Patienten außerdem oft zur Lichttherapie. Das ist wissenschaftlich sehr gut untersucht für die reine Winterdepression.
Welche Rolle spielt Sport?
Sport und Bewegung sind hilfreich. Man muss nicht joggen, es reicht, wenn man spazieren geht. Das hilft. Insbesondere wenn man sich einen Hund zulegt. Hunde wirken antidepressiv. Einfach weil sie soziale Kontakte fördern. Kaufen Sie sich keine Katze, wenn Sie Depressionen haben, das hilft nicht.
Aus Sicht von Angehörigen: Welche Warnzeichen einer Depression gibt es, und was kann man tun?
Die typischen Symptome zu kennen, das ist hilfreich. Die Hauptkriterien habe ich genannt. Es gibt eine ganze Reihe von Zusatzkriterien: Zum Beispiel Konzentrationsstörungen. Das geht bis hin zu Patienten, die sagen, sie hätten eine Demenz. Dann kratzt man an der Oberfläche und merkt, dass es eine Depression ist, gibt ein Antidepressivum, dann ist die »Demenz« weg. Weitere typische Symptome sind vermindertes Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken und -handlungen, Schlafstörungen, Störung des Appetits.
Kann man als Angehöriger viel mehr machen als zu animieren, sich in ärztliche Behandlung zu begeben?
Am schlimmsten sind die Ratschläge wie »Stell dich nicht so an«. Man muss mit seinem Angehörigen offen reden und als erste niedrigschwellige Anlaufstelle den Hausarzt empfehlen.
Wie lange dauert eine Depression?
Die meisten Depressionen sind glücklicherweise zeitlich begrenzt. Es gibt Statistiken, die sagen, dass sie bei 50 Prozent der Menschen, die zum ersten Mal im Leben eine Depression haben, drei Monate dauert, bei drei Vierteln ist es nach einem Jahr vorbei, und 80 Prozent sind nach zwei Jahren beschwerdefrei. Es gibt auch Patienten, bei denen es chronisch wird. Sie behalten einen Rest der depressiven Symptomatik dauerhaft. Das ist aber gar nicht so häufig. Und es gibt Patienten, die immer wieder im Leben depressive Episoden haben.
Medikamente
Bezüglich Medikamenten gebe es »furchtbar viele Vorurteile«, sagt Prof. Tibo Gerriets. Er müsse oft sehr lange mit Patienten reden, um diese Vorurteile zu zerstreuen. So machten Antidepressiva laut Gerriets nicht abhängig, und sie »überdecken« auch nicht einfach nur die Symptome, sondern behandelten die neurochemischen Ursachen im Gehirn. Antidepressiva seien auch keine »Happy Pills«; sie heben die Stimmung nur wieder auf das Normalniveau. Eine Depression entstehe durch ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern, das Medikament bringe dieses Neurotransmitter-System im Laufe von vielen Wochen langsam aber sicher wieder in die Normallage.
Vortrag und WZ-Gesundheitstipps
Prof. Tibo Gerriets betreibt seit 2021 gemeinsam mit seiner Frau, Privatdozentin Marlene Tschernatsch, in Bad Nauheim die Privatpraxis »Die Neurologen«. Zuvor ist er Chefarzt am Friedberger Bürgerhospital in der Abteilung Neurologie/Stroke Unit gewesen. Der Steinfurther Gerriets hält am Mittwoch, 20. September, in Zusammenarbeit mit dem Kneipp-Verein Bad Nauheim-Friedberg-Bad Salzhausen einen Vortrag zum Thema Depressionen (17 Uhr in der Bad Nauheimer Trinkkuranlage). Der Eintritt ist frei. In den nächsten Monaten wird die WZ in Kooperation mit dem Kneipp-Verein in loser Folge Tipps von Experten zu gesundheitlich relevanten Themen veröffentlichen.