Fürs Schmökern interessieren

Bad Nauheim (ihm). Um über Literatur ins Gespräch zu kommen, empfiehlt sich eine spannende Lektüre. Die war gegeben, als die Buchhandlung Rühs zum »Geteilten Lesen«, dem »Shared Reading« mit Kirsten Hofmann einlud. Das Interesse war groß.
Geschlechterstereotype sind immer weniger zu finden. Wenn Frauen gerne Hosen, kurze Haare und feste Stiefel tragen, ist das seit Jahrzehnten gesellschaftsfähig. Sie fühlen sich wohl und weiblich, ob sie sich burschikos anziehen oder nicht. Es wird auch immer üblicher, Männer zu sehen, die sich schminken, Dutt und Röcke tragen - dies als Form des Selbstausdrucks oder weil sie es bequem und praktisch finden. Das Geschlecht an ein Kleidungsstück oder eine Farbe zu hängen, halten viele Menschen zunehmend für unsinnig. Genau das beschrieb eine Diskutantin der ersten »Shared Reading«-Veranstaltung in der Buchhandlug Rühs. Sie hat beruflich viel mit jungen Menschen zu tun, weshalb sie erlebt, dass metrosexuelle Kleidungsstile immer mehr Usus werden.
Vor über 30 Jahren konnten Männer, die ihre weibliche Seite ausleben wollten, dies oft nur im Verborgenen tun. Aus jener Zeit, aus 1990, stammt der Text von Doris Dörrie »Was machst du, wenn ich aus dem Haus gehe?« Kirsten Hofmann, die die Veranstaltung leitete, bot diese Geschichte an. Die Heldin der Story ist mit einem Mann verheiratet, der sie zweimal im Monat bittet, ihm einen freien Abend ganz allein zu Hause zu gönnen. Sie geht solange spazieren und fragt sich, was er daheim wohl macht. Eine Ahnung beschleicht sie, als sie über die seidene Unterwäsche nachdenkt, die er ihr schenkt. Ihre Neugier kann sie eines Abends nicht länger bezwingen und späht von außen durchs Fenster, dessen Vorhang sie heimlich ein Stück geöffnet hat.
Es dürfte verschiedene Gründe geben, weswegen jemand »Crossdresser« ist. Vielleicht sieht sich die Person als transsexuell, fühlt sich als Frau im männlichen Körper. Möglicherweise will sich dieser Mensch nicht kategorisieren lassen. Es kann Fetischgründe haben oder er/sie identifiziert sich mit beiden Geschlechtern, ohne dass dies Rückschlüsse auf die sexuelle Orientierung zulässt.
Neue Eindrücke
Die Geschichte von Doris Dörrie bot jede Menge Diskussionsstoff. Der Einladung in die Buchhandlung Rühs folgten 14 Frauen und ein Mann, die gespannt zuhörten und sich in den Lesepausen intensiv mit Wortbeiträgen einbrachten. Muss sich die Ehefrau »betrogen« fühlen, wenn sie herausbekommt, dass ihr Mann ein »Crossdresser« ist? Oder ist vielmehr sie die Betrügerin, wenn sie durch den Vorhang linst? Warum denkt sie nur über den Mann nach, statt etwas Gutes für sich zu tun? Ist die Sprachlosigkeit der Eheleute ein Fall für die Therapie?
»Shared Reading« ist ein Konzept, das aus England stammt und sich bewusst nicht an elitäre Lesekreise richtet, sondern, es will alle Menschen für das Schmökern interessieren. Deshalb war Buchhändlerin Kirsten Rühs von der Idee angetan, an je einem Abend im März, April und Mai die Türen dafür zu öffnen. Dass die Veranstaltung so gut angenommen wurde, dürfte auch am Treffpunkt liegen. Zwischen Bücherregalen zu sitzen, ist ein schlüssiger Ort, um Literatur zu genießen. Gleichzeitig zeigt der Zuspruch, dass für viele Menschen das Klicken in den sozialen Netzwerken nicht mehr der Weisheit letzter Schluss ist. So komfortabel E-Books, Buchblogs und Online-Rezensionen auch sind, so sehr besteht das Bedürfnis nach haptischen, fühlbaren Erlebnissen. Wer ein Druckwerk in der Hand hält, dazu eine Stimme hört und anschließend darüber sprechen kann, empfindet den Inhalt vielleicht als nachhaltiger. Obwohl der Doris-Dörrie-Text relativ kurz war, reichten die anderthalb Stunden der Veranstaltung kaum aus. Den Kopf voller Eindrücke gingen die Gäste zufrieden nach Hause.