Ingrid Nein und die Puppenküche für vier Generationen

Puppenstube, Puppenküche, Kaufladen: Bis heute erfüllen sie die Träume vieler kleiner Mädchen. Die Puppenküche von Ingrid Nein aus Bad Nauheim diente vier Generationen lang als Spielobjekt.
Ich war wohl sechs oder sieben Jahre alt, als ich die gebrauchte Puppenküche meiner geliebten Tante Lilo geschenkt bekam«, erzählt Ingrid Nein, geboren 1943, aus Bad Nauheim. Damit ging aber nicht etwa ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung; denn sich etwas wünschen zu dürfen, das gab es nicht für die Kleine. Die Puppenküche war eines Weihnachtstages einfach da. Eine so große Freude hatte sie kaum zuvor erlebt. Umso trauriger war das Kind, als das Spielzeug nach Weihnachten wieder weggeräumt wurde, um ein Jahr später, mit ein paar Teilen neuen Geschirrs bestückt, wieder hervorgeholt zu werden.
Die Puppenküche stammt von einem Schreiner, der mit der Familie von Ingrid Neins Mutter bekannt war. Der grün gestrichene Rahmen lässt sich vorne wie zwei Türen einklappen und mit einem Haken verschließen. Das für die Zeit typischen Küchenbuffet, Stühle, Tisch und Regal waren ursprünglich mal beige. Nein strich sie rosa und beklebte die Wände mit Delfter-Kachel-Tapete, als sie das Lieblingsstück ihrer Kindheit in den späten 1960er-Jahren an ihre beiden Töchter Claude und Susanne weitergab. Nach ihnen spielte noch eine der Enkelinnen damit.
Die Küche der einfachen Leute war in dieser Zeit zugleich auch Wohnstube. »Ich habe am Küchentisch gegessen, meine Hausaufgaben gemacht und gelesen.« Ein Büchlein ist noch aufgeschlagen. »Meine kleinen Puppen setzte ich auf die Stühle und redete mit ihnen. Sicher habe ich auch mal geschimpft, wenn sie den Teller nicht leer gegessen hatten. Meist gab es Suppe, das war am einfachsten«, erinnert sich Nein. Die reale Welt in Miniatur. Auch hier ohne Vater. Denn den gab es in ihrem Leben nicht; er war in Gefangenschaft gestorben.
Das Küchenbuffet verbarg im Unterschrank Töpfe und Vorrat, oben Gläser und Tassen, in den Schubladen Besteck. Auch Puppenlöffel fand sie beim Auskramen der alten Kartons wieder. Oben, erinnert sie sich, war gut versteckt das Haushaltsgeld der Mutter in einer Schale mit Deckel. Doch ein Spülstein fehlt. »Früher musste man ja raus zum Wasserholen, und dann wurde in einer Schüssel abgewaschen«, erklärt Nein die heute unvorstellbare Arbeitsweise. Den Herd hatten sie allerdings später dazugekauft. Ob alles zusammenpasst, danach fragte keiner. Wenn die kleine Ingrid vor der Puppenküche auf einem Bänkchen saß und spielte, nahm sie um sich herum nichts mehr wahr. »An Weihnachten habe ich die ganze Nacht durchgespielt. Ja, die Puppenküche war viele Jahre mein Zufluchtsort«, weiß sie noch genau.
Die Puppenküche als Zufluchtsort
Bei ihrer Suche nach den alten Schätzen stießen Ingrid und ihr Mann Rudi Nein auf einen Kaufladen, der in den leeren Wänden eines Puppen-Schlafzimmers steckte. Bisher glaubten sie, der Kaufladen sei vielleicht 50 Jahre alt, bis sie entdeckten, dass er Jugendstiltapeten und eine Tür mit fein ausgearbeitetem Jugendstilmotiv und der Aufschrift »Privat« hat. Als sie ihn für die jüngere Tochter kauften, hinterfragten sie nicht die Herkunft. Jedenfalls ist er mit Holzinventar und Marken-Miniaturen sowie einem Bollerofen bestückt, was auf ein gehobenes Kolonialwarengeschäft der 1920er-Jahre deutet.
»Claude spielte sehr intensiv sowohl Kundin als auch Verkäuferin damit, bevor es einen großen modernen Kaufladen gab. Da mussten wir dann auch mal aushelfen«, bestätigen die Eltern.
Vom Krautfass bis zum Fleischklotz, Feger und Kartoffelsack, vom Nudelholz bis zur Kaffeemühle, der funktionsfähigen Waage bis zu spitzen Papiertüten zum Abfüllen der losen Ware: Alles ist vorhanden. An Theke und Wänden kleben Werbeplakate für Imi, Sil und Ata. In den Regalen stapeln sich Mini-Verpackungen von Rote Grütze, Dompfaff-Bohnerwachs und Kaiser-Kuchen für Soßen.
Ob in diesem wunderschön gestalteten Lädchen alles so stilgerecht ist, wie das Ambiente vermuten lässt? Die winzigen damaligen Markenverpackungen und die sorgfältigen Holzarbeiten deuten darauf hin. »Vielleicht stammt der Kaufladen ja sogar aus der Bad Nauheimer Jugendstilzeit«, fragen sich Ingrid und Rudi Nein inzwischen.
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