Moderne als »unvollendetes Projekt«

Bad Nauheim (gk). In einem dichten, anspruchsvollen Vortrag unternahm Prof. Heiner Klemme von der Universität Halle-Wittenberg am Freitagabend im Rahmen der »Philosophischen Reihe« die Klärung der Begriffe »diskursive« bzw. »kommunikative« Vernunft in der Philosophie von Jürgen Habermas, der am 18. Juni seinen 94. Geburtstag begangen hat.
Die Grundannahme seiner seit den 1970er Jahren kontinuierlich weiterentwickelten »Diskursethik« bzw. »Diskurstheorie der Moral« besteht darin, dass es möglich ist, konsensuell und auf Basis vernünftiger Argumente universelle Aussagen über moralische Prinzipien zu machen.
Habermas betrachtet unsere Moderne, wie sie sich seit dem Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hat, als »unvollendetes Projekt«, das es zu »retten« gelte. Dies könne nur mithilfe einer auf allgemeinverbindlichen moralischen Prinzipien beruhenden diskursiven, d. h. intersubjektiven Rationalität gelingen.
In unserem »postmetaphysischen« Zeitalter sind alle Versuche der Letztbegründung moralischer Normen obsolet geworden, so Habermas. In seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« von 1981 spielt die Sprache eine Schlüsselrolle, so Prof. Klemme in seiner Vorstellung dieses Werks. Unserem Sprechen liegt implizit ein Anspruch auf Wahrheit beziehungsweise Geltung zugrunde. Auch vom Gesprächspartner erwarten wir das, denn sonst würden wir nicht mit ihm kommunizieren.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, dass Kommunikation gelingen, d. h. Konsens (zum Beispiel in moralischen Fragen) erzielt werden kann? Danach fragt die Diskurstheorie der Moral. Ihr erster Grundsatz lautet: »Nur diejenigen Normen dürfen Geltung beanspruchen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden können.« Gelingen kann dies nur, wenn alle Diskursteilnehmer »auf Augenhöhe« kommunizieren und - wie Habermas so schön sagt - im Gespräch nur »der zwanglose Zwang des besseren Arguments« gilt.
Der sogenannte Universalisierungsgrundsatz besagt: »Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für jeden Einzelnen ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.«
Bezug zu sozialen Netzwerken
Mit diesen beiden Diskursgrundsätzen geht Habermas grundsätzlich über Kants »Kategorischen Imperativ«, der auf der subjektiven Entscheidung des Einzelnen beruht, hinaus. Er hält am Rationalitätsprinzip fest, verabschiedet sich aber von der Idee einer objektiv gültigen Wahrheit. An ihre Stelle setzt er einen intersubjektiv erzielten Konsens der jeweiligen Diskursteilnehmer.
Eine entscheidende Rolle für Habermas’ Diskurstheorie spielt eine auf allgemeinverbindlichen Rechtsgrundsätzen basierende demokratische Öffentlichkeit, zu der alle Bürgerinnen und Bürger gleichen Zugang haben. In seinem Essay »Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit« von 2022 weist der bedeutendste deutsche Denker nach 1945 eindringlich auf die von der Digitalisierung ausgehenden Gefahren hin. In den undurchschaubaren, sich jeder öffentlichen Kontrolle entziehenden »sozialen Netzwerken« herrschten anarchische »Kommunikationsverhältnisse«, die langfristig zur Depotenzierung, d. h. Zerstörung jeder demokratischen, regelbasierten Öffentlichkeit führen müssen.
Prof. Klemmes heroischen Bemühungen, eine hochkomplexe Theorie in gut einer Stunde wenigstens halbwegs verständlich zu vermitteln, gebührt - das zeigte auch der Schlussapplaus - Dank und Anerkennung. FOTO: KOLLMER