Roland Matthies: Gestus bedeutet innere Haltung

Der Schauspieler Roland Matthies hat seit einiger Zeit ein privates Standbein in der Wetterau. Im Kunstverein hat er bereits tiefe Spuren hinterlassen.
Roland Matthies ist freier Theaterschauspieler, Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, Sprecher, Jacques-Brel-Interpret, inszeniert und macht Theaterprojekte. Seit ein paar Jahren hat er ein privates Standbein in der Wetterau. Nachdem er 2022 im Kunstverein Bad Nauheim bei einer Vernissage Gedichte rezitierte, wollten wir mehr über diesen vielseitigen Künstler wissen.
Herr Matthies, sie pendeln zwischen Hamburg und Bad Nauheim. Wo sind Sie zu Hause?
Ich schwanke. In Hamburg bin ich beruflich verankert. Die Wetterau erkunde ich noch, mag aber sehr gerne kleine Orte mit Flair. Ich bin in Brüssel aufgewachsen, weil meine Eltern dort bei EU-Behörden arbeiteten. In Paris und Erlangen habe ich studiert, in Bonn und im Ruhrgebiet gearbeitet. Ich will in jedem Fall auch hier Wurzeln schlagen.
Ihre werkbezogenen Gedichtrezitationen bei der Mitgliederausstellung im Kunstverein waren beeindruckend. Ist das impulsgesteuert oder müssen Sie sich intensiv vorbereiten?
Ich lasse mich gerne von anderen Künsten inspirieren. Da kommen die Texte spontan aus einem großen Repertoire. Das gilt auch für die Lehre. Aber es ist nicht so, dass ich gleichermaßen tiefen Zugang zu allen Kunstformen hätte. Es ist eher die Neugier, die mich treibt, Musik, bildende Kunst, Film vor allem, auch Bücher. Gerade habe ich von Benjamin Wells »Vom Ende der Einsamkeit« gelesen, stark war auch »Anna Karenina«. Und den Kindern lese ich sehr gerne vor.
Welche Bedeutung haben Sprache und Gestik für Sie als Schauspieler?
Als Jugendlicher faszinierte mich Pantomime. Das studierte ich dann in Paris bei Étienne Decroux, der auch Lehrer von Marcel Marceau war, später an der École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq. Aber ich hatte das Gefühl, mir fehlt etwas: die Muttersprache. Deshalb ging ich mit Mitte Zwanzig zum Studium nach Deutschland. Sprache und Gestik müssen kongruent sein. Man muss nicht groß gestikuliere, die Körpersprache an sich ist sprechend. Wenn ich von Gestus spreche, bedeutet das eine innere Haltung.
Muss man als Schauspieler nicht etwas übertreiben?
Nein, es geht nicht um Übertreibung, sondern um Artikulation. Sprache braucht eine bestimmte Größe. Konsonanten sind eher das Skelett der Sprache, Vokale geben den Ausdruck. Ich merke bei meiner fast zweijährigen Tochter, dass ein Laut ein emotionaler Ausdruck ist, oft verbunden mit Berührung. Auf der Bühne ist es der Ausdruck der Seele. Beim Singen wird das noch deutlicher.
Sie beraten auch Wirtschaftsunternehmen und machen Theaterworkshops mit Menschen im Verkauf. Was bewirken Sie bei den Menschen?
Menschen, die im Verkauf tätig sind, müssen sich anderen zuwenden können, aufmerksam sein, die Anliegen ernst nehmen. Ich will mich als Kunde angesprochen fühlen. Tatsächlich schule ich Auszubildende, um ihnen ein Bewusstsein für die Wirksamkeit ihres Ausdrucks zu geben. Das hat viel mit Körperbewusstsein zu tun. Die Beweglichkeit in der Stimme ist die Beweglichkeit im Körper. Das gilt ganz allgemein für die Kommunikation in der Gesellschaft.
Sie sind zusammen mit dem Theatermusiker Christoph Iacono schon rund 20 Jahre mit einem Jacques Brel-Programm unterwegs. Warum Brel?
Ich habe ihn als Kind in Brüssel häufig gehört und finde seinen Ausdruck so stark. Er macht mit seinen Geschichten eigentlich Theater. Das Programm läuft sich einfach nicht tot, weil wir immer wieder die Lieder wechseln. Hoffentlich können wir das bald auch einmal hier anbieten.
Sie hatten feste Engagements als Schauspieler, wollten aber lieber frei sein, offen für anderes.
Ja. Ich hatte auch mal einen Lehrauftrag an der privaten Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg. Und ich habe Musical gelehrt in Osnabrück und an der Folkwang-Hochschule Schauspiel. Dann habe ich inszeniert, zum Beispiel in Essen die Performance »Opfer« nach einem Film von Andrej Tarkowskij.
Was reizt Sie jetzt gerade?
Inszenierungen sind wieder sehr aktuell. Im Herbst plane ich eine Performance mit einer ehemaligen Studentin aus Brasilien, »Nahe am wilden Herzen«. Dabei geht es um verschiedene Sprachen wie Portugiesisch, Deutsch und Gebärdensprache. Die kann ich nicht, aber man lernt ja von anderen. Und an den Kammerspielen in Hamburg planen wir in der nächsten Saison »Vom Verschwinden«. Das ist ein von Stolpersteinen inspiriertes Stück über die sehr gut recherchierte Biografie eines entfernten Verwandten. Außerdem möchte ich neben der Teilzeitprofessur in Hamburg einfach mehr Zeit für meine Familie haben.
In Bad Nauheim treten Sie am 16. April wieder im Kunstverein auf. Verraten Sie uns, was Sie dafür vorbereitet haben?
Das sind dramatische Texte aus Theaterstücken von Falk Richter, einem meiner liebsten Gegenwartsautoren, passend zu den Bildern, die an sich schon wie Theater wirken. Ich hoffe, dass sich in der Wetterau noch viele Gelegenheiten ergeben, bei denen man mich erleben kann.