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Vom Kapitalismus zum »Verein freier Menschen«

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Von: Gerhard Kollmer

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Dieter Hüning Professor © Gerhard Kollmer

Bad Nauheim (gk). »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle (gesellschaftlichen) Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, verlassenes, verächtliches Wesen ist«.

Menschenrechte bleiben abstrakt

Dieser programmatische Satz des jungen Karl Marx aus seiner 1844 erschienenen »Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie« diente als Motto für den informativen Vortrag Prof. Dieter Hünings von der Universität Trier im Rahmen der philosophischen Reihe.

Anhand von Marx’ Mehrwerttheorie und seiner Kritik der bürgerlichen Menschenrechte zeigte er auf, dass dessen Analysen der sich nach der Französischen Revolution 1789 herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft ihre analytische Potenz bis in unsere Gegenwart nicht völlig verloren haben.

Die klassischen Menschenrechte, wie sie erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1791 formuliert werden, gelten bis heute als Grundpfeiler der Demokratie.

Was kann Marx - zu einer Zeit, als die staatliche Garantie dieser Rechte jedes einzelnen Bürgers unabhängig von seiner sozialen Herkunft noch in weiter Ferne lag - daran kritikwürdig finden? Seine These lautet: In einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bleiben Menschenrechte, auch wenn gesetzlich verbürgt, rein abstrakt, weil für die Klasse der Ausgebeuteten unrealisierbar. Und zwar deshalb, weil nur die Klasse der Besitzer von Produktionsmitteln (Maschinen, Räumlichkeiten etc. zur Herstellung von Waren jeglicher Art) diese abstrakten Rechte konkret wahrnehmen kann.

Die Mehrzahl derjenigen hingegen, die nur über ihre Arbeitskraft zur Herstellung dieser Produkte verfügt, ist aufgrund fehlender materieller Voraussetzungen dazu nicht in der Lage.

Aber widerlegt nicht die im Lauf der vergangenen 150 Jahre stattfindende stetige Verbesserung der materiellen Lage der Nichtproduktionsmittelbesitzer die Grundthese von Marx? Nichtsdestotrotz gibt es immer noch, würde Marx wohl entgegnen, eine (mittlerweile sogar wieder breiter werdende) Kluft zwischen Arm und Reich, die auch wohlmeinendste staatliche Sozialpolitik und steigende Löhne nicht schließen können.

Nur eine Vergesellschaftung (nicht Verstaatlichung, wie in den ehemaligen »realsozialistischen« Staaten) der Produktionsmittel kann, so Marx, den Weg für den Übergang von der Klassengesellschaft zu einem »Verein freier Menschen« - wie es in den nachgelassenen »Grundrissen« von 1857/58 etwas romantisch heißt - ebnen.

In dieser als konkrete Utopie anvisierten »kommunistischen« Gesellschaft der Gleichen, die nicht mehr auf der »Absonderung«, sondern »Verbindung« des Menschen mit dem Menschen basiert, gilt das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«.

Zweifellos hat Marx als Analytiker mehr Gewicht denn als Prophet eines innerweltlichen Paradieses. Das zeigt sich spätestens in seiner, in der 1859 erschienenen »Kritik der politischen Ökonomie« erstmals formulierten, Mehrwerttheorie. Warum ist die - auch wenn auf formaler politischer Gleichheit beruhende - bürgerliche Gesellschaft per se Klassengesellschaft? Weil die über nichts als ihre Arbeitskraft Verfügenden und für die Produktionsmitteleigner materielle Werte Schaffenden für diese Werte keinen ihnen entsprechenden Gegenwert erhalten - also einen vom Kapitalisten unrechtmäßig einbehaltenen Mehrwert produzieren. Das klingt plausibel.

Für seinen Vortrag erhielt Prof. Hüning lang anhaltenden Applaus.

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