Vom Turnierpferd zum Schaf: Nieder-Mörlerin hat ein besonderes Schaukelpferd

Vor vielen Jahren hat Elke Ess aus Nieder-Mörlen das hübsche Schaukelpferd auf dem Dachboden in ihrem Elternhaus entdeckt. Auch in der vierten Generation wird es geliebt und umsorgt.
In welchem »Fell« ihr Schaukelpferd einst geboren worden ist, weiß Emilia nicht. Eigentlich ist das auch egal. Die Sechsjährige liebt es so, wie es ist. Ihrer Familie ist es genauso ergangen. Alle ritten auf dem heute fast 100 Jahre alten Holzpferdchen, hegten und pflegten es. Emilia und ihre große Schwester Vivien nutzten den Apfelschimmel mit dem roten Sattel, der blauen Satteldecke und dem Schwanz aus Hanf zudem als Turngerät, und sogar zur Krippenfeier in der Nieder-Mörler Kirche durfte das Pferdchen mit: im entsprechenden Fellüberwurf schlüpfte es in die Rolle eines Schafes.
Gerne erinnert sich Elke Ess, Oma der beiden Frauenwaldschülerinnen, an den Moment, da sie das Schaukelpferd bei ihrem Vater Heinz Ess in Dorn-Assenheim auf dem Dachboden entdeckt hat. Als Kind sei er darauf geritten, habe sich der 1924 geborene leidenschaftliche Pferdezüchter damals erinnert, erzählt Elke Ess. Nach der Geburt ihrer Tochter Wiebke erlebte das damals braun gestrichene Holz-Schaukelpferd seine Renaissance. »Auf dem Pferdchen habe ich Trockenübungen für Reitturniere gemacht«, sagt Wiebke Falk und schmunzelt. Die Liebe zu Pferden und das Reiten hatte sie in die Wiege gelegt bekommen.
Kleine Kameraden für das Gäulchen
Dass aus dem einst braunen Pferdchen ein Apfelschimmel wurde, hängt mit einer Fernsehsendung zusammen, die Elke Ess vor rund 13 Jahren sah. In der Reportage über den letzten verbliebenen »Odenwälder Gäulschesmacher« erkannte sie die frappierende Ähnlichkeit der dort beschriebenen Handwerkskunst mit dem alten Familien-Schaukelpferd. Elke Ess nahm Kontakt zu dem Familienbetrieb im Odenwald auf und fuhr mit ihrem Pferdchen dorthin.
So kam es, dass das Holzpferd aus Reichelsheim (Dorn-Assenheim) in der Wetterau nach Reichelsheim (Beerfurth) im Odenwald kutschiert und als Original »Odenwälder Gäulsche« identifiziert wurde. In ihrer Manufaktur reparierten Harald Boos und Annette Krämer das alte Pferdchen und gaben ihm das seit Jahrzehnten überlieferte Aussehen als Apfelschimmel.
Zugleich erstand Elke Ess im Holzspielwarengeschäft des Paares für ihr Gäulchen zwei kleine Kameraden, die gemeinsam einen Leiterwagen ziehen. Auch die wunderbare Ergänzung sollte sich bei ihren Enkelinnen bewähren.
Odenwälder Gäulschesmacher
Wie die Gäulsche vor rund 160 Jahren in den Odenwald gekommen sind, weiß man nicht genau. Erzählt wird, dass die ersten Exemplare einem Karussellpferd nachempfunden wurden. Zwischenzeitlich stellten 23 Betriebe im Odenwald die international beliebten Schaukelpferde her. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hörten die meisten unter dem Konkurrenzdruck von Blech- und Plastikspielzeug auf. Seit 1962 ist nur noch ein Betrieb übrig: In vierter Generation wird »Holzspielwaren A. Krämer« in Reichelsheim/Odenwald betrieben. Seit Annette Krämer und ihr Mann Harald Boos das Geschäft 1996 übernommen haben, haben sie es mit handwerklichem Geschick, liebevoller Leidenschaft und nimmermüdem Engagement auf solide Beine gestellt. Bis heute ist die Musterkiste von Firmengründer Adam Krämer aus dem Jahr 1899 eine Fundgrube für Holzhandwerker. Für ihre »Odenwälder Gäulsche« nehmen sie dreierlei heimisches Holz: Pappel für den gedrechselten Rumpf, Kiefer für Kopf und Standbrett, Buche für Beine und Kufen. Im eingespielten Zweier-Team beherrscht jeder jeden Arbeitsschritt. Jedes Pferdchen ist ein Unikat mit dem Prädikat »reine Handarbeit«.