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Worte finden zu den Bildern

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Von: Hanna von Prosch

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Im Steinkreis: »Apokalypse und der Weg dahin« von Jean-Marie Bourdin ist auf dem Boden der Galerie der Trinkkuranlage zu sehen. © Christine Fauerbach

Bad Nauheim (hms). 63 Künstlerinnen und Künstler, rund 70 Werke von der Collage bis zur Zeichnung, Plastik und Installation, raumfüllend und kleinquadratisch, in vielen Stilrichtungen, abstrakt, realistisch oder als Video: Das zeichnet die Mitgliederausstellung »Inside.art« des Kunstvereins Bad Nauheim in der Trinkkuranlage aus.

Die Besucherzahlen der neuen Ausstellung erreichten in diesem Jahr den Rekord von mehr als 3300. Am Freitag, 23. Dezember, schließt die Ausstellung. Doch vorher bot Kuratorin Karin Merchel zum 4. Advent noch etwas ganz Besonderes: Eine szenische Lesung mit dem in Hamburg und in Wisselsheim lebenden Sprecher, Schauspieler und Sänger Professor Roland Matthies. Dabei entstanden nicht Bilder in Worte gekleidet, sondern Worte fanden zu Bildern.

Eine außergewöhnlich reizvolle Form der Auseinandersetzung, wobei nicht er selbst seine Empfindungen wiedergab, sondern dazu die Worte und Gedanken aus Lyrik und Erzählung wählte. Dabei suchte er nach Motiv, Ausdruck, Fantasie oder dem von den Künstlern gewählten Titel spontan aus. Es entstanden Farbtupfer der Literatur passend zu den Farbtupfern der Bilder. Was in dem 90-minütigen Schaustück nicht berücksichtigt war, sprach für sich und stellte keinerlei Qualifikation dar.

Schon bei den ersten frei vorgetragenen Worten zieht der Schauspieler die mehr als 30 Besucherinnen und Besucher in der Trinkkuranlage in seinen Bann. Sie schauen ihm auf die Lippen, verfolgen die Gesten, erwarten den Ausdruck in seinem Gesicht, wenn er deutet, ruft, fragt. Die Worte fliegen, singen, sacken in sich zusammen. »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus…«, zitiert er Rilke. Und weiter: »Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm.« Hier wurden die Dinge lebendig.

Bertolt Brecht, den er auch in längeren Gedichten rezitiert, lässt er mit einem Liebesgedicht für ein zartes Rosenbild sprechen. Der »Sonnenuntergang bei Friedberg« inspiriert ihn zu »Brot und Wein« von Hölderlin. Dem »Sommerwind« stellt er Hugo von Hoffmansthals »Frühlingslied« zur Seite. Die Rosen auf den Feldern in Steinfurth erleuchtet er mit Hebbels »Sommergedicht«. Auch ein unbekannter Erich Kästner taucht auf und in zwei kleinen dunkleren Bildern hört er die Jüdin Nelly Sachs sagen »…wie leicht wird Erde sein.«

Das Bild einer polnischen Künstlerin - ein springendes Kind, eine streng schauende Mutter, zerbrochene Scheiben in einem wohlhabenden Haus - verbindet er mit dem »Kinderkreuzzug« von Brecht. Zerrissene Reiche, Schnitte der Geschichte, Erwartungen. Bei Brecht irren Kinder auf der Suche nach einem friedlichen Land durch das zerstörte Polen und gehen schließlich durch Kälte und Hunger zugrunde. Matthies spielt die Szene durch, während seine kleine Tochter lachend »Papa, Papa« ruft und auf ihn zuläuft. Er nimmt sie auf den Arm, sie spielt mit seinem Hut: Kinderglück, Geborgenheit. Welch ein Kontrast - und Trost.

Im anderen Raum taucht er ins »Blaue« ein: Meer und Wellen geben Hoffnung, dass es immer weitergeht. Er singt »American Pie« von Don McLean. »Exotische Träume« erinnern ihn an Else Lasker-Schüler, die oft orientalische Gedanken wob auf der Suche nach einem Zuhause. Beeindruckt hat den darstellenden Künstler der bildhafte Umgang mit den Rollenmodellen in der Rotunde. Dazu wandelt er Goethe ab: »Jede sehe, wo sie bleibe« und trägt schmunzelnd Eichendorffs romantisches Waldgespräch »Lorelei« vor. Mit dem Rilke-Zitat »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort« schließt sich der Kreis: In der Ausstellung ein Steinkreis mit zerstörter Umwelt, »Apokalypse« genannt.

»Ich fand das toll, ich muss unbedingt das Gedicht zu meinem Bild nachlesen«, sagte Aussteller Manfred Jung. Schwierig war es zunächst für Hans-Jürgen Leim, was Matthies aus seinem Werk las: »Wir haben gerade darüber gesprochen. Das ist für mich jetzt noch mal eine Öffnung in eine andere Richtung.« Auch Gudrun Anlauft hatte zwar eine andere Interpretation für ihr Bild, fand aber die Auseinandersetzung eines Fremden interessant und die Inszenierung sowieso: »Es ist gut, wenn Menschen sich Gedanken zur Kunst machen.«

Die Mitgliederausstellung »Inside Art« des Kunstvereins Bad Nauheim ist noch vom heutigen Dienstag bis Freitag, 23. Dezember, täglich von 14 bis 18 Uhr geöffnet.

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»Lena Gehrke« von Jörg Hofmann ist ein Porträt mit Nägeln in Anlehnung an Günther Ücker. © Christine Fauerbach
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Roland Matthies ist Sprecher, Schauspieler, Sänger, Professor; in Hamburg und auch in Wisselsheim wohnhaft. © Hanna von Prosch

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