Pharma-Expertin über Medikamentenmangel und wie man ihn verhindern kann

Seit vielen Monaten sorgt der Medikamentenmangel für Sorgen, Angst, Ärger und Verzweiflung. Die WZ hat beim in Bad Vilbel ansässigen Pharma-Unternehmen Stada nachgehakt.
Ingrid Blumenthal leitet beim Pharma-Unternehmen Stada in Bad Vilbel das Generika-Segment. Zudem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Branchenverbandes Pro Generika. Die WZ hat mit ihr über Engpässe, Preise, das Dilemma des Apothekers und über die Frage gesprochen, wie sinnvoll es wäre, mehr in Europa zu produzieren.
Gibt es bei Stada Engpässe hinsichtlich der Herstellung von Medikamenten? Und welche Rolle spielen dabei die Preise?
Insgesamt sind wir bei Stada dank ausgefeilter Analysesysteme sehr gut aufgestellt, was die Lieferfähigkeit betrifft. Damit können wir verlässliche Prognosen darüber treffen, welche Medikamente in absehbarer Zukunft in welcher voraussichtlichen Menge benötigt werden. Das System ist aber sehr komplex. Vielleicht sollte ich daher nicht nur für Stada antworten, sondern für die Branche insgesamt.
Gerne.
Wenn nämlich ein Hersteller nicht lieferfähig ist, hat das sofort Auswirkungen auf die anderen, die Nachfrage verteilt sich dann auf sie. Und diese gestiegenen Nachfragemengen müssen dann bedient werden. Das wiederum kann gegebenenfalls dazu führen, dass die anderen Hersteller nach einer gewissen Zeit auch nicht mehr lieferfähig sind. Hinzu kommt, dass das System insgesamt sehr preisreguliert ist.
Inwiefern?
Rabattverträge zwischen Herstellern und Krankenkassen regeln, was in der Apotheke abgegeben werden darf. Zusätzlich gibt es für viele Produkte einen Erstattungspreis, bis zu dessen Höhe die Kasse die Kosten erstattet. Ist dies nicht festgelegt, dann tritt das Preismoratorium in Kraft. In diesem Falle sind die Preise eingefroren auf das Niveau vom August 2009. Preiserhöhungen sind also quasi nicht möglich.
Das ist lange her.
Ja, das ist es, und Inflation wird dabei nicht berücksichtigt.
Welche Auswirkungen haben Rabattverträge zwischen Krankenkassen und Pharma-Unternehmen?
Das komplette Generika-System baut auf Rabattverträgen mit Krankenkassen auf. Da gibt es sehr viele Exklusiv-Zuschläge. Wenn zum Beispiel ein Hersteller für eines seiner Produkte einen Zuschlag der AOK bekommt - die AOK macht rund 30 Prozent des Krankenkassenmarktes aus -, dann ist dieser Markt für alle anderen Anbieter für zwei Jahre, und somit für die Dauer des Vertrages, nicht zugängig.
Der Apotheker hat also vielleicht fünf Medikamente, die gleich wirken und austauschbar sind. Aufgrund des mit nur einem Hersteller geschlossenen Rabattvertrages für das Medikament dürfen die anderen vier Produkte von anderen Herstellern nicht abgegeben werden?
Genau. Er ist gezwungen, das Produkt abzugeben, für das der Rabattvertrag existiert. Nur im Falle einer Lieferunfähigkeit des Rabattarzneimittels oder wenn andere triftige Gründe vorliegen, darf er das Generikum eines anderen Herstellers abgeben. Ein solcher Grund kann beispielsweise sein, dass der Arzt aus gesundheitlichen Gründen ein bestimmtes Präparat für den Patienten empfiehlt.
Gibt es keinen triftigen Grund, heißt das also, dass die anderen Firmen ihre Produktion drosseln.
Die anderen Hersteller ohne Rabattvertrag stellen dann für die Vertragslaufzeit von mindestens zwei Jahren entsprechend weniger Ware her, denn sie planen schließlich ohne den Anteil der AOK. Zu viel produzierte Ware würde am Ende verfallen und müsste vernichtet werden. Sollte der - in unserem Beispiel - AOK bezuschlagte Hersteller aus irgendeinem Grund lieferunfähig werden, so kann der Markt dies unter Umständen nicht auffangen.
Haben Sie ein Beispiel?
Es war bei Tamoxifen, einem Brustkrebsmittel, der Fall. Drei Hersteller haben sich aus dem Markt zurückgezogen. Wir hatten gerade Gespräche mit einem neuen Lohnhersteller aufgenommen und mussten den Prozess beschleunigen, haben noch Ware aus Italien besorgt, um die Patientinnen in Deutschland zu versorgen. Der bisherige deutsche Hersteller, der für uns produzierte, hatte das Interesse an der Produktion des Produktes verloren.
Wie wurde das Problem gelöst?
Wir haben uns bemüht, andere Lieferanten zu finden. Der einzige, der bereit war, weiterhin Tamoxifen zu produzieren, war ein indischer Produzent. So konnten wir die Versorgung der Patienten sicherstellen. Es ist wichtig, dass wir nicht sagen: Wir holen das Ganze zurück nach Europa. Sondern es geht darum, Abhängigkeiten abzubauen und Diversität weitmöglichst zu fördern.
Wenn also ein Unternehmen Probleme bekommt, sind die anderen doch gefragt, können aber nicht von heute auf morgen die Produktion verdreifachen, richtig?
Das geht so schnell nicht, weil die Produktionskapazitäten weltweit begrenzt sind. Normalerweise spricht man von einer Vorlaufzeit von sechs bis neun Monaten.
Wo gibt es jenseits des Themas Rabattverträge aktuell Engpässe - Stichworte Rohstoffe und Lieferketten?
Es gibt eine Liste vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die Produkte, die auf dieser Liste stehen, kommen aus allen Bereichen.
Woran liegt das?
Es gibt eine globale Steigerung der Nachfrage nach Medikamenten, es gibt ja auch mehr Menschen. Außerdem beobachten wir eine gestiegene Nachfrage nach bestimmten Produktgruppen wie zum Beispiel Antibiotika oder Erkältungsprodukten - auch in Folge der Corona-Pandemie. Eigentlich ist es vollkommen egal, wo diese Produkte hergestellt werden, es müssen einfach die ausreichenden Kapazitäten vorhanden sein. Die Qualität ist überall die gleiche.
Wie wird diese Philosophie bei Stada umgesetzt?
Bei Stada haben wir eine Second-Source-Strategie, haben also nicht nur eine Wirkstoffquelle, sondern immer zwei. Das macht uns flexibler. Von unseren 15 Produktionsstätten weltweit liegen 13 in Europa.
Mal angenommen, man wolle doch mehr in Europa herstellen: Wie kompliziert wäre es, hier eine Produktion hochzufahren?
Das dauert Jahre. Und wir halten es ehrlicherweise auch nicht für realistisch. Es würde auch sehr, sehr teuer werden und vermutlich teurer als anderswo. Es muss für die Unternehmen Anreize geben, zu produzieren. Und das ist schwer, wenn ich ein Rabattvertragssystem habe, wenn ich ein Preismoratorium habe, wenn ich einen gesetzlichen Herstellerrabatt habe. Am Ende des Tages muss wenigstens kostendeckend produziert werden können. Darüber hinaus ist für uns aber nicht entscheidend, wo produziert wird, sondern dass es möglichst viele Produktionsstätten gibt, um Abhängigkeiten zu reduzieren.
Generika herzustellen, ist erst zum Ende der Patentlaufzeit des Erstanbieterproduktes erlaubt. Das kann nach 15 bis 20 Jahren nach Einführung des Original-Produktes der Fall sein. Würden Sie sich wünschen, dass diese Zeit verkürzt wird, um mehr auf den Markt bringen zu können?
Ja, auf jeden Fall. Es ist auch ein volkswirtschaftliches Thema. Generika sind ja sehr viel günstiger. Auf der anderen Seite muss es für forschende Unternehmen auch eine gewisse Periode geben, um lukrativ zu sein und in teure Forschung investieren zu können.
Weil sonst der Anreiz, etwas Neues auf den Markt zu bringen, nicht so groß wäre?
Absolut. Oder es müssten möglicherweise die Preise in der verkürzten Laufzeit eines Patentes höher sein.
Können Sie Menschen, die bei ihrer Medikamentensuche von Apotheke zu Apotheke gehen, etwas Positives mit Blick auf die Zukunft sagen?
Positiv ist, dass wir sehr gut mit unserer Planung sind, sie immer verbessern wollen. Wir schauen, was wann wo passieren könnte, um vorausschauend mehr zu produzieren und Bestand aufzubauen. Dabei berücksichtigen wir durchaus auch globale Aspekte. Wir können natürlich aber auch nicht alles vorhersehen, was weltweit passiert.
Zum Beispiel Kriegs- und Krisenherde?
Ja, und die sehe ich nicht nur in Israel, China und Indien, sondern leider auch in Europa.
Das Unternehmen Stada
Die Stada Arzneimittel AG hat ihren Sitz in Bad Vilbel. Das Unternehmen setzt auf eine Drei-Säulen-Strategie, bestehend aus Consumer-Healthcare-Produkten, Generika und Spezialpharmazeutika. Weltweit vertreibt die Stada Arzneimittel AG ihre Produkte in rund 120 Ländern. Zum 31. Dezember 2022 beschäftigte Stada weltweit 13 183 Mitarbeiter. Das Unternehmen hat neben der Verwaltung auch eine Produktion in Dortelweil und dort im Jahr 2022 mehr als 65 Millionen Packungen aus Indikationsgebieten wie Herz-Kreislauf, Bluthochdruck, Schmerz oder Erkältung und vielen weiteren hergestellt.