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Zwischen Schöllkrippen und Berlin

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Johannes Scherer begeistert sein Publikum in der Alten Mühle. © Red

Bad Vilbel (cf). Applaus per Lichthupe im Düdelsheimer Autokino? Streaming per Zoom vor laufender Kamera und leeren Rängen? »Das alles waren Pandemie-Notlösungen, aber es geht nichts über Ihre Gegenwart, Ihre Resonanz, Ihr Lachen und Ihren Applaus.« Mit diesem emotionalen Bekenntnis zu seinem Publikum und generell zu Kultur als interaktivem Live-Event eröffnete Johannes Scherer seinen »Best of«-Abend im Bad Vilbeler Theater Alte Mühle - um besagte Zuschauer dann sofort mitzunehmen in seine Kindheit im bayerischen Schöllkrippen, nahe der hessischen Grenze.

Als asthmageplagtes »Sanostol-Kind«, Sohn eines gelernten Hypochonders und einer fernwehkranken Mutter, gehörte der schmächtige Johannes in der Schule zu den »Turnbeutelvergessern«, für die der Sportunterricht regelmäßig zur Tortur wurde. Zumal wenn sich der sadistisch veranlagte Sportlehrer einen Spaß daraus machte, den kleinen Jungen heranzuziehen, »um der 6c zu zeigen, wie man den Felgaufschwung am Reck auf gar keinen Fall machen darf«.

Dialekte zwischen Sylt und Scheidegg

Zum Glück war Johannes Scherer schon damals ein sprachliches Naturtalent, der von jedem Kuraufenthalt zwischen Scheidegg und Sylt einen neuen Dialekt und Zungenschlag mit nach Hause brachte. Findig drehte er den Spieß einfach um, ahmte vor seinen Klassenkameraden den verhassten Sportlehrer nach und brachte so die Lacher auf seine Seite.

Humor und Parodie als Rettungsanker für eine verletzte Kinderseele - und später als Sprungbrett für eine imposante Moderatoren-Karriere bei Hit Radio FFH und darüber hinaus: Solo und gemeinsam mit Bodo Bach, als Stand-up-Comedian und Kabarettist, hessenweit und mit stets aktualisierten »Scherereien«, zwischen Schöllkrippen und Berlin, dem Deutschen Fußballbund und beliebten Samstagabendsendungen bleibt Johannes Scherer seit nunmehr 25 Jahren stets mit Herz und Intellekt, Auge und Ohr am Puls der jeweiligen Zeit.

Amüsanter Ausflug zum Blauen Bock

Bei allen Reminiszenzen verlor er sich auch an diesem Abend nie in purer Nostalgie, sondern stellte das Gute aus unterschiedlichen sozialen Welten neben die Fehler und Gefahren. Dabei wurden mit messerscharfen Pointen der Terrorismus der 70er genauso zum Thema wie Verschwörungstheorien, Maßlosigkeit und soziale Kälte heutiger Tage. Dennoch verliert der Künstler keinen Augenblick lang seine tiefverwurzelte Menschenfreundlichkeit und die Nähe zum Publikum aus den Augen: Dieses dankte ihm auch beim opulenten dreistündigen Rückblick mit begeistertem Applaus.

Vielbeklatscht: Die Ausflüge zum Blauen Bock mit Heinz Schenk, zum sonntäglichen Internationalen Frühschoppen »mit fünf Journalisten aus sechs Ländern, deren Gesichter vor lauter Zigarrenqualm nicht zu erkennen waren«, zu den »Unverbesserlichen« mit Inge Meysel »als der Kim Kardashian der 50er Jahre« und zu Eduard Zimmermann und seinem düsteren »Aktenzeichen XY ungelöst«. Zwischendurch tauchte Scherer gemeinsam mit seinem Vater in eine öffentliche Bedürfnisanstalt der ultramodernen Art ab, schwitzte im Smoking bei einer hochsommerlichen Kreuzfahrt mit seiner Mutter vor Dubai und versorgte Pistners Marie, Info-Börse und Social Media im heimischen Schöllkrippen, mit Neuigkeiten aus der Gerüchteküche. Natürlich durften geniale Parodien auf Franz Beckenbauer, »Loddar« Matthäus und Jürgen Klinsmann nicht fehlen, »der aktuell in Kalifornien verschollen ist, wo Julia Leischik nach ihm sucht«.

Einzig der Bundestag gäbe zurzeit nicht viel Greifbares für den Parodisten her, so Scherer, zumal man von Bundeskanzler Olaf Scholz ohnehin so gut wie nie ein Wort höre. Und dann doch ein gelungener Coup: Mit charakteristischem Näseln begrüßte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach das Bad Vilbeler Publikum »zu diesem Superspreaderevent« und empfahl, das Pausenbier für einen unverbindlichen Corona-Selbsttest zu nutzen.

Je später der Abend, desto deutlicher und packender die Gesellschaftskritik: Dass viele Menschen vergessen haben, wo die Grenzen des Konsums, der Missgunst, Ausgrenzung und des Hasses liegen, ist Johannes Scherer ebenso ein Dorn im Auge wie die Digitalisierung der Kindheit. »Unser Spiel hieß ›draußen‹«, stellte der Comedian fest und klang dabei kein bisschen wehmütig. Nur besorgt, weitsichtig und weise.

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