Das Unvorstellbare aufklären

Fast ein Jahr nach dem Mord an der damals 14 Jahre alten Ayleen aus Baden-Württemberg wird ab Dienstag dem mutmaßlichen Täter der Prozess gemacht. Die Leiche des Mädchens wurde in einem See bei Reichelsheim gefunden.
Regine Enders-Kunze ist keine Lautsprecherin unter den Richtern am Landgericht Gießen. Sie arbeitet akribisch, sehr ruhig und begegnet schweren Sachverhalten mit Bedacht. Das ist auch bitter nötig. Denn bei ihr geht es oft um alles: Sie ist Vorsitzende der 5. Großen Strafkammer, des Schwurgerichts, in dem schwerste Verbrechen verhandelt werden und es meist um die Frage geht, ob der oder die Angeklagte lebenslänglich in Haft muss - oder eben nicht.
Sie muss dafür sorgen, dass nach zum Teil unvorstellbaren Taten wenn nicht Gerechtigkeit, so doch wenigstens Rechtsfrieden erreicht wird. Unter ihrem Vorsitz wurde der Serienmörderin Tuba S. der Prozess gemacht, die in Gießen den Zauberer Riconelly und in Düsseldorf zwei Frauen getötet hatte. Und sie leitete das Verfahren gegen Rick J., den Mörder von Johanna Bonacker aus Bobenhausen.
122 Zeugen und 30 000 Chats
Am Dienstag beginnt unter dem Vorsitz von Enders-Kunze der Mord-Prozess im Fall »Ayleen«: Ein 30 Jahre alter Mann aus Waldsolms (Lahn-Dill-Kreis) soll die 14 Jahre alte Schülerin Ayleen aus Baden-Württemberg im Juli bei Cleeberg (Kreis Gießen) getötet und ihren Leichnam zum Teufelsee bei Weckesheim gebracht haben. Wird er verurteilt, droht ihm Lebenslänglich - mit anschließender Sicherungsverwahrung.
Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen und Bestürzung gesorgt. Der 30 Jahre alte Mann aus dem Lahn-Dill-Kreis soll das Mädchen Ende April 2022 beim Messenger-Dienst »Snapchat« kennengelernt und dort mit ihr viele Nachrichten ausgetauscht haben. Am Nachmittag des 21. Juli 2022 habe er dann die 14-jährige Schülerin mit seinem Auto in Gottenheim in Baden-Württemberg abgeholt und nach Hessen in eine Waldgemarkung bei Cleeberg gebracht. Dort soll er das Mädchen an einem Feldweg kurz nach Mitternacht getötet haben. Die Strafverfolgungsbehörden gehen wegen ihrer Ermittlungsergebnisse davon aus, dass die Tat sexuell motiviert war.
Im Anschluss soll der Mann den Leichnam des Mädchens zum Teufelsee bei Weckesheim gebracht haben, wo Einsatzkräfte der hessischen Polizei ihn am 29. Juli während einer großangelegten Suchaktion finden konnten. Nur vier Tage später verhafteten die Ermittler den Waldsomser.
Vorangegangen waren intensive Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Gießen und des Polizeipräsidiums Mittelhessen. Die dort eingerichtete 30-köpfige Soko »LACUS« vernahm 122 Zeugen, wertete über 30 000 Chats aus und holte eine Vielzahl von rechtsmedizinischen und kriminaltechnischen Gutachten ein. Der Waldsomser hatte zu Beginn die Vorwürfe bestritten und von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Später jedoch gestand der Mann laut Staatsanwaltschaft während einer mehrstündigen Vernehmung die Tötung. Zudem führte er die Polizei zum Tatort und zeigte den Ablageort weiterer Kleidungsstücke des Mädchens.
Vorfall nach Fest in Rosbach
Der 30-Jährige ist für die Polizei kein Unbekannter. Nach Erkenntnissen der Ermittler hatte er 2007 im Alter von 14 Jahren versucht, eine Elfjährige zu vergewaltigen. Anschließend sei er für zehn Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und 2017 daraus entlassen worden, teilte das Landeskriminalamt mit. Danach habe er fünf Jahre unter Führungsaufsicht in einem Programm für rückfallgefährdete Sexualstraftäter gestanden. Dieses lief Ende Januar 2022 regulär aus.
Bereits Ende April soll der Mann eine damals 17-jährige Bad Nauheimer Schülerin auf dem Blütenfest in Rosbach angesprochen, sie danach zu einer Beziehung genötigt und mehrfach auf einem Bad Nauheimer Schulhof belästigt haben. Anfang Mai sei Strafanzeige gegen ihn bei der Polizei in Friedberg erstattet worden.
In dem Verfahren im Fall Ayleen wird Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger die Staatsanwaltschaft Gießen vertreten. Wie Richterin Enders-Kunze kennt er sich mit schwersten Verbrechen aus - aktuell unter anderem im »Mord ohne Leiche«-Prozess gegen zwei Angeklagte, die einen Mann getötet und anschließend dessen Leiche verschwinden haben lassen sollen. Auch bei Tuba S. und Rick J. war er als Staatsanwalt beteiligt.
Im Gespräch mit dieser Zeitung vor fünf Jahren hatte der Dezernatsleiter für Tötungsdelikte einmal über seine Arbeit gesagt: »Man erhält Einblicke in menschliche Abgründe, aber auch in viele Fachbereiche wie Rechtsmedizin, Psychiatrie oder Unfallanalysen.« Im Mittelpunkt stehe für ihn der Rechtsfrieden. »Ich bin überzeugt, dass solche Delikte aufgeklärt werden müssen«, sagt er. »Denn hinter den eigentlichen Opfern gibt es weitere Opfer: die Familienangehörigen, Freunde.« Diese werden über die Nebenklage im Gerichtsverfahren vertreten sein.
Das Verfahren in der Strafsache »Ayleen« wird am Dienstag, 13. Juni, am Landgericht Gießen vor der 5. Großen Strafkammer eröffnet. Für die Verhandlung sind 15 Sitzungstage vorgesehen. Für Ende September könnte mit einem Urteil gerechnet werden.