1. Startseite
  2. Region
  3. Wetteraukreis

Denkmal für Zivilcourage: Anne Weber liest »Heldinnenepos« in Büdingen

Erstellt:

Kommentare

rueg_Anne_Weber_Lesung_2_4c
Auch beim freien Erzählen nachdenklich, sensibel, sprachaffin: die Autorin Anne Weber bei ihrer Lesung in Büdingen. © Elfriede Maresch

Für ihr Buch »Annette, ein Heldinnenepos« hat Anne Weber, Übersetzerin und Publizistin mit Büdinger Würzeln, den Deutschen Buchpreis erhalten. Daraus las sie auf Einladung der Stadtbücherei und des Kulturkreises.

Die Einladung der Stadtbücherei und des Kulturkreises Büdingen, dessen Vorsitzender Markus Karger die Gäste eingangs begrüßte, ein Heimspiel für Anne Weber. Ihre Mutter wie auch Lehrkräfte und Jugendliche des Büdinger Gymnasiums waren unter den 50 Zuhörern.

Die Autorin ist keine Nostalgieschwelgerin. Nur knapp berichtet sie auf Nachfrage, sie habe schon als Kind gern erzählt und am Gymnasium habe Lehrerin Karla Kleinau sie unterstützt und gefördert.

Zufälliges Treffen bei Filmfestival

Eine eher zufällige Begegnung habe ihr den Zündfunken für dieses Buch gegeben, berichtete Weber, die zwischen Erzählen und Lesen wechselte.

Bei einem kleinen Filmfestival tief in der französischen Provinz traf sie die 94-jährige Anne Beaumanoir, die sich lebhaft und entschieden in die Diskussion einschaltete.

Weber und die alte Dame kamen ausführlicher ins Gespräch, und die Seniorin erzählte von ihrer Zeit in der Résistance während der deutschen Besetzung Frankreichs und von ihrem Einsatz im algerischen Unabhängigkeitskrieg.

Eine freundschaftliche Beziehung baute sich auf. Weber: »Sie war so eine schöne alte Frau, so entschieden gegen Rassismus und Fanatismus.«

Anne Beaumanoir hatte ihre Erinnerungen unter dem Titel »Wir wollten das Leben ändern« veröffentlicht. Es war eine Lektüre, die der literarisch professionellen Anne Weber geradezu wehtat: »Das Buch war schlecht ediert, schlecht lektoriert.« Beaumanoirs Leben wäre einer besseren Darstellung wert gewesen.

Weber fühlte sich in einen ganzen Strudel von Fragen hineingezogen: »Was treibt einen Menschen an, der sein Leben aufs Spiel setzt, um andere zu retten?« oder in Anlehnung an Theorien des russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin »Ist es Liebe, die den Revolutionär antreibt, oder Hass?« und schließlich aus der Sicht der Widerständigen »War es das wert, was ich aufgegeben habe. Habe ich recht getan?«

Jüdische Jugendliche und Säugling vor KZ gerettet

»Sie ist sehr alt und wie es das Erzählen will, ist sie zugleich noch ungeboren. Heute, da sie fünfundneunzig ist, kommt sie auf diesem weißen Blatt zur Welt.« - Ehe Weber diese Anfangssätze schrieb, stand sie vor einem formalen Problem.

Eine nach wissenschaftlichen Kriterien verfasste Biografie samt Vollständigkeitszwang hätte die Faszination, die von Beaumanoirs Person ausging, kaum widergespiegelt. Eine teils fiktive Romanbiografie wollte Weber nicht schreiben. Es habe ihr widerstrebt, Dialoge zu erfinden, die so gar nicht gesprochen wurden: »Ich wollte mich an das halten, was ich erzählt bekam.«

Und allein die Episode, wie die 19-jährige Beaumanoir und ihr Freund es schafften, zwei jüdische Jugendliche und einen Säugling vor der Deportation ins KZ zu retten, obwohl ihnen als Mitglieder der Résistance solche Einzelaktionen streng verboten waren, hatte Weber tief beeindruckt: »Sie war noch so jung und hat ihr eigenes Leben für Fremde aufs Spiel gesetzt - für mich ist sie eine Heldin!«

Dabei bekannte sich Weber zu Schwierigkeiten mit dem Heldenbegriff: »Der ist viel zu sehr instrumentalisiert worden, im Nationalsozialismus wie bei den kommunistischen ›Helden der Arbeit«.«

Freiheit kleiner Denkpausen

So entschied sich die Autorin für ein »Heldinnenepos«, für eine Form, die man mit dem Nibelungenlied, dem »Parsifal« und ähnlichen archaischen Erzählungen verbindet. Damit hatte sie die Freiheit für eine subjektive Darstellung, für ein assoziatives Suchen in der »archäologischen Fundstätte Vergangenheit«.

Weber zählte die formalen Möglichkeiten auf, die ihr diese Wahl gab: »Verzicht auf ein strenges Metrum, freie Verse, markierte Zeilenenden im gelesenen Sprachfluss, Binnenverse, Alliterationen« und sie hob eine Buchseite hoch und zeigte den Flattersatz der Druckzeilenenden.

Das Büdinger Publikum fand nicht nur die biografische Substanz des Buches spannend, sondern auch das freie Erzählen Anne Webers. Nichts von professioneller Glätte oder demonstrativer Eloquenz: Weber ist eine sensible, nachdenkliche Erzählerin, die sich die Freiheit ganz kleiner Denkpausen für die jeweils treffende Formulierung nimmt.

Und wie reagierte die reale Anne Beaumanoir auf das fertige Buch? »C’est formidable - mais ce n’est pas moi!« - »Es ist beeindruckend - aber das bin nicht ich!« Auch die Geschichte der »zweiten Annette«, die Webers Epos spiegelt, ist lesenswert.

Auch interessant

Kommentare