»Die Energiewende treibt mich um«

Am 8. Oktober findet die Landratswahl für den Vogelsbergkreis statt. Fünf Bewerber treten an. Im Interview mit dieser Zeitung spricht der unabhängige Kandidat Bernhard Becker über seine Motivation, Klimapolitik und Schwerpunkte für den Kreis.
Weshalb will ein Berufsschullehrer im Ruhestand wie Sie Landrat werden?
Ich mache das für die elf Enkelkinder, die wir haben. Sie sollen auch noch eine Zukunft haben. Es geht um einen echten Einstieg in die Energiewende mit Solaranlagen auf den Dächern zur Eigenstromerzeugung. Da passiert auf Kreisgebäuden so gut wie gar nichts. Wir brauchen Kraft-Wärme-Kopplung in öffentlichen Gebäuden. Nur als Beispiel: Im Hallenbad Alsfeld ist ein Blockheizkraftwerk eingebaut. Das ist eine Gelddruckmaschine, wenn man Strom und Wärme selbst nutzt.. Auf dem Feuerwehrhaus in Alsfeld wurde immerhin eine Photovoltaikanlage installiert, aber leider keine Kraft-Wärme-Kopplung eingebaut. Das wäre besser: Im Sommer erzeugt man Strom, im Winter nutzt man die Heizung für Strom und Wärme. Es ist immer besser, dezentral die Energie zu erzeugen.
Was treibt Sie noch an?
Die Bürokratie wird immer mehr aufgebläht. Wenn ich bei der Verwaltung anrufe, heißt es »Haben Sie einen Termin?«. Ansonsten kann man nicht mal sein Auto anmelden. Ein Landwirt hat mir davon erzählt, das Kälbchen in Gruppen gehalten werden müssen. Die Folge ist, dass sie sich gegenseitig an Wunden lecken, die sich dann entzünden. Und bei der Planung von Radwegen werden die Vorgaben auch immer komplizierter. Beim Sammeln von Unterstützungsunterschriften für die Landratswahl wurde mir verboten, an einem Markttag in Lauterbach einen Stand zu machen. Erst nach einer Dienstaufsichtsbeschwerde und Fachaufsichtsbeschwerde über den RP Gießen konnte ich in Lauterbach die Unterstützerunterschriften sammeln. Die Verwaltung sollte für die Bürger da sein, nicht umgekehrt.
Waren Sie schon parteipolitisch aktiv?
Ich habe eine eher konservative Grundeinstellung und war 20 Jahre in der CDU. Aber als dann Roland Koch Ministerpräsident in Hessen wurde, bin ich ausgetreten. Die Regierung Koch hat die Häuser des Landes verkauft, zurückgemietet und ist noch für die Instandhaltung selbst zuständig. Welch ein Unsinn. Das würde kein Privater machen. Entscheidend für meine Entscheidung war die Privatisierung der Uni-Klinik Gießen-Marburg, das war untragbar. Ich bin komplett dagegen, wenn Kapitalgesellschaften in Arztpraxen und Krankenhäuser einsteigen. Dann geht es nur noch um den Umsatz, aber in einer Praxis und einem Krankenhaus sollten die Ärzte das Sagen haben.
Sie sind in der Vergangenheit immer wieder mit Appellen für die Nutzung von regenerativer Energie an die Öffentlichkeit getreten, woher kommt das?
Die Energiewende treibt mich schon seit etwa 1992 um. Ich habe an der Max-Eyth-Schule in Alsfeld den Heizungsbau sowie den Karosserie- und Fahrzeugbau betreut. In Gießen habe ich Gebäudetechniker ausgebildet. Meine beruflichen Schwerpunkte lagen auf Heizung und Klimatechnik. Mit den Schülern sind wir immer wieder nach Montpellier in Frankreich gefahren. An der dortigen Berufsschule haben sie eine tolle Modellanlage für Klimatechnik aufgebaut, das war immer beeindruckend.
Umstritten in unserer Region sind Windenergieanlagen - brauchen wir davon noch mehr?
Alsfeld hat schon fünf Prozent der Stadtfläche belegt. Wir haben echt genug Windkraftanlagen im Vogelsberg. Ich war selbst an einer Anlage in Billertshausen beteiligt und finde es gut, wenn einzelne Orte ihren Strom aus einer eigenen Anlage beziehen. Das wird aber wiederum nicht genehmigt.
Wie stehen Sie zur Debatte um Photovoltaikanlagen auf Wiesen?
Ich bin gegen PV-Freiflächenanlagen. Man muss die Eigenversorgung in den Orten stärken, also Strom vom eigenen Dach nutzen. Das muss aber auch besser vergütet werden. Es geht nicht, dass ich Strom von meiner Anlage für 8 Cent pro Kilowattstunde ins Netz einspeise, aber 40 Cent bezahle, wenn ich Strom beziehe. Am besten ist es, eine Anlage gemeinsam mit Nachbarn zu betreiben, wie das in Österreich und Italien geschieht. In den Niederlanden läuft der Stromzähler vorwärts wie rückwärts, das wäre ideal. Als Landrat würde ich mich bei der OVAG dafür einsetzen, dass zusätzliche 6 Cent für Solarstrom bezahlt werden.
Sie machen aus dem Thema eine Aktion im Wahlkampf?
Anstatt Wahlplakaten und Wahlparty spende ich zehn mal 100 Euro für privaten Solarstrom im Vogelsbergkreis. Als Landrat dazu das halbe Gehalt. Das ist ein Anreiz. Mehr steht auf meiner Internetseite bernhard-becker.com.
Die Kreispolitik hat noch weitere Aspekte: Was ist Ihr Rezept, um mehr Menschen in den Vogelsberg zu locken?
Für junge Familien ist es interessant, wenn die Vogelsbergbahn zweispurig ausgebaut und elektrifiziert wird. Man kann Windenergie und Solarstrom aus dem Vogelsberg dazu nutzen, mit der S-Bahn nach Frankfurt zu fahren. Wichtig ist auch, schnelles Internet für das Arbeiten von zu Hause aus zu garantieren. Das Leben ist gerade für Familien attraktiv im Vogelsberg. Kinder finden ein Paradies in der Umgebung vor und wir haben sehr gute Schulen.
Sehen Sie in der Migration Vorteile für den Kreis?
Die Menschen aus anderen Ländern sind eine Chance für uns, wenn sie arbeiten gehen. Wirtschaftsflüchtlinge können wir nicht aufnehmen. Aber wenn jemand aus einem Land kommt, in dem Krieg herrscht, dann müssen wir ihn aufnehmen und die Menschen müssen auf die Orte verteilt werden.
Wie denken Sie über die Ansiedlung von weiteren Unternehmen? Immerhin wird viel Fläche benötigt.
Da bin ich gegen die Ansiedlung von Logistikunternehmen. Die benötigen riesige Flächen, setzen Roboter statt Arbeitern ein und ziehen viel Verkehr an. Wir brauchen mehr »weiße Industrie« wie Rechenzentren. Auch da ist Windkraft eine Chance, weil solche Rechenzentren Riesenmengen an Strom benötigen. Die Abwärme kann in Nahwärmenetze fließen, damit kann man Alsfeld locker mit Heizwärme versorgen. Und wir müssen Platz für die mittelständigen Unternehmen bieten, die sind unsere Stärke.
Die Wirtschaft ist im Wandel, wo sehen Sie da den Vogelsberg in der Zukunft?
Wir haben Möglichkeiten bei der Wasserstofferzeugung, also der Umwandlung von Windstrom in Wasserstoff. Der kann dann in die Gasleitungen eingespeist werden, bis zu einem bestimmten Prozentsatz ist das ohne Probleme möglich. Dadurch werden weitere Umwandlungsverluste vermieden, die entstehen, wenn der Wasserstoff wieder zur Stromerzeugung genutzt wird. Dort entstehen 30 Prozent Abwärme, die vor Ort zum Heizen von Hallen und Häusern genutzt werden kann.
Welche Bedeutung hat der Tourismus für die Region?
Der Tourismus ist ein starker Wirtschaftsbereich, der zu fördern ist. Die Region muss attraktiv als Ziel für Besucher sein. Dafür müssen auch die Radwege ausgebaut werden, denn die Sicherheit ist für Familienurlauber sehr wichtig. Aber auch für Radfahrer aus dem Vogelsberg müssen gefährliche Stellen entschärft werden. So ist das Überqueren der Straßen an der Pfefferhöhe zwischen Romrod und Alsfeld echt gefährlich, das habe ich schon erlebt. An den Kreiseln im Vogelsbergkreis sind keine Zebrastreifen wie in Frankfurt, Bonn oder Trier.
Wie soll die Kreispolitik mit der AfD umgehen?
Das ist für mich eine rechtsradikale Partei, mit der ich nichts zu tun haben will. Wir müssen uns an die Weimarer Zeit erinnern, als die Nazis die Waffen der Demokratie genutzt haben, um die Demokratie abzuschaffen. Zudem bestehen Verbindungen der AfD zu Russland und Putin.
Welche Chancen rechnen Sie sich aus, Landrat zu werden?
Die Chancen sind nicht sehr hoch, aber wer weiß das schon. Es wäre bereits ein schöner Erfolg, in die Stichwahl zu kommen.