Die Geschichtensammlerin

Angela Klein fragt gerne: Wo ihre Deutschkursteilnehmer herkommen, wie es in deren Heimat gewesen ist und wie sich das Ankommen angefühlt hat. Mit einigen der Antworten hat sie nun ein Buch herausgegeben. »Ausgewundert« lautet der Titel. Zu lesen sind dort Geschichten übers Ankommen und die damit verbundene Verwunderung über die großen und über die kleinen Dinge.
Lehrbuchaufgaben sind meist recht systematisch. Grammatikübungen, Lückentexte, Hörverstehen. Manchmal jedoch gibt es kleine Schreibaufgaben: »Schreiben Sie einen Text über Ihre Heimatstadt, über Ihren Alltag, Hobbys « Bei solchen Aufgaben ist es Angela Klein in ihren Deutschkursen für zugewanderte Erwachsene immer wieder aufgefallen: »Es kamen oft kreative Texte heraus.« In Sprachkursen jeder Niveau-Stufe sei es immer wieder beeindruckend zu sehen, »was kleine und kleinste kreative Schreibanlässe in den Lernenden bewirken und hervorbringen: theatralische Fähigkeiten, poetische Ansätze, Erinnerungsschübe, ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten, Tränen, Lachen und und und.«
Mit der Zeit kam die Deutschkursleiterin auf eine Idee: »Die Geschichten, die ich höre, dürfen nicht im Kosmos verschwinden. Sie sind zu gut - auf ganz unterschiedliche Art.« Manche tragisch, andere »brüllend komisch«.
Angela Klein lebte und unterrichtete damals in der Wetterau und fragte in ihren Deutschkursen an der VHS, wer Lust hätte, sich im Schreiben eines längeren Textes zu versuchen. Das Thema: die Zeit vor der Ankunft in Deutschland. Sieben Frauen (»Es ist Zufall, dass es nur Frauen sind«) sagten ja, schrieben Texte, die 2014 als Buch »Übergestern« beim Engelsdorfer Verlag (Leipzig) erschienen sind.
Nun ist quasi die Fortsetzung erschienen - auch wieder von Angela Klein initiiert und organisiert. Eine Fortsetzung, weil es diesmal um die ersten Tage und Wochen in Deutschland geht. Und übers Wundern - zum Beispiel darüber, wieso in Deutschland die Grashalme zwischen den Pflastersteinen herausgezupft werden. Das Buch heißt »Ausgewundert«. Angela Klein, die inzwischen im Kreis Heilbronn lebt und dort Deutsch unterrichtet, hat es im Selbstverlag herausgegeben. Sechs Frauen aus fünf Ländern erzählen darin über ihre erste Zeit in Deutschland - drei von ihnen haben bereits für »Übergestern« geschrieben.
Für die Deutsch-Dozentin ist es ein Projekt, in das sie viel Arbeit, vor allem aber Herzblut gesteckt hat. Schon lange beschäftige sie sich mit Schreibschulen, mit Ansätzen zum therapeutischen und biografischen Schreiben. Zudem habe sie schnell gemerkt, wie viel Freude es den Autorinnen mache, an dem Buch zu arbeiten.
Zuerst jedoch habe es eine gewisse Skepsis gegeben, vor allem etwas Angst davor, komplett auf Deutsch zu schreiben. »Ich habe versucht, sie zu motivieren, gesagt, ich helfe euch. Ihr müsst nicht nur alleine dasitzen und schreiben.« Für die ersten Treffen überlegte sie sich »kleine Losschreibübungen zum Schärfen der Sinne«. Mit Erfolg. »Die meisten Frauen waren nicht mehr zu bremsen.«
Im Spätherbst 2020 begann die Arbeit am Buch, die Treffen der Gruppe waren meistens online. Diesen November ist dann die erste Auflage gedruckt worden - 170 Exemplare. Inzwischen sind alle vergriffen. Die zweite Auflage soll Mitte Januar erscheinen. Das interne Lektorat übernahm Angela Klein. Ebenso die Organisation rund um den Druck. Aber auch, wenn manches an dem Projekt ungewohnt war, bereitete es ihr doch große Freude. Weil sie eine »Geschichtenjägerin und -sammlerin« ist, wie sie schmunzelnd sagt. Und weil sie ohnehin gerne mit Texten arbeitet. Bevor sie Deutsch unterrichtet hat, war sie ausschließlich als Übersetzerin tätig - für Portugiesisch und Englisch. »Irgendwann war mir das ein bisschen einsam im stillen Kämmerlein« - sie ging zur VHS und bot ihren ersten Sprachkurs an. »Anfangs ganz im Dienst der deutschen Grammatik, die doch tatsächlich von Menschen aus aller Welt begierig aufgenommen wurde«, schreibt sie im Nachwort von »Ausgewundert«. Mit der Zeit, berichtet sie, wurde das Spektrum der Kurse breiter und die Motivation der Lernenden unterschiedlicher. »Immer sind welche dabei, die Feuer fangen und Lust bekommen, sich in ihrer neuen Sprache freier zu bewegen, als es in einem Kurs möglich ist.«
Darüber, dass die erste Auflage ausverkauft ist, freuen sich Angela Klein und die Autorinnen sehr. Einen Wunsch haben sie jedoch noch: einen Verlag für das Buch zu finden. Und gerne auch Nachahmer. »Das Buch ist kein Exklusiv-Projekt. Wir hoffen, dass es anderen Mut macht, auch ihre Geschichte zu erzählen.«
