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Die Linke und sexualisierte Gewalt: Ortenberger Pfarrer hilft Opfern

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Der Ortenberger Pfarrer Martin Schindel ist Ansprechpartner für Menschen, die in der Partei Die Linke von Belästigung und sexualisierter Gewalt betroffen sind. Über seine Aufgabe spricht er im Interview. © Corinna Willführ

Der Ortenberger Pfarrer Martin Schindel gehört dem Vertrauensteam der hessischen Linken für Opfer sexualisierter Gewalt und sexueller Belästigung an. Ein Interview zum Hintergrund.

Nach den von meist jüngeren oder noch jugendlichen Parteimitgliedern erhobenen Vorwürfen, sexualisierten Belästigungen in der Partei Die Linke ausgesetzt gewesen zu sein, hat der Vorstand des hessischen Landesverbandes einstimmig ein Team von drei Vertrauensleuten benannt. An dieses sollen sich Betroffene von mutmaßlichen Übergriffen ab sofort wenden können. Neben der Sozialpsychologin Dr. Julia Schnepf aus dem Kreis Bergstraße und der Marburger Juristin Godela Linde (Autorin des Buches Basta! Gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz) gehört dem Trio Martin Schindel, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Ortenberg, an.

Herr Schindel, Sie sind vom Landesvorstand der Hessischen Partei Die Linke zum Vertrauensmann in das Team gewählt worden, das als Ansprechpartner zur Verfügung steht für Menschen, die in der Partei von Belästigung oder gar sexualisierter Gewalt betroffen waren beziehungsweise sind. Ihr Augenmerk richtet sich damit also nicht auf die evangelische Kirche oder kirchliche Organisationen. Warum hat man Sie dafür ausgewählt? Warum haben Sie zugesagt? Wie stehen Ihre Dienstherren dazu?

Ich habe in der Presse die Beiträge über die Vorwürfe sexualisierter Gewalt in der Partei Die Linke wahrgenommen und mich gefragt, was ich tun kann, um zu helfen. Ich bin nicht Mitglied der Partei und habe auch nicht vor, das zu werden. Ich halte es aber für unsäglich, wenn junge Frauen und Männer, die sich für eine Veränderung der Gesellschaft zum Besseren einsetzen, sich gegen unangemessenes oder gewalttätiges Verhalten von Machos zur Wehr setzen müssen. Solches Verhalten und solche Strukturen müssen überall - in der Politik, in der Kirche, in der Gesellschaft - benannt und abgestellt werden.

Die Landesvorsitzende der Linken, Petra Heimer, rief mich nach einem Mail-Kontakt an und fragte, ob ich im Auftrag des Landesvorstandes der Partei die Aufgabe eines Vertrauensmannes wahrnehmen würde. Ich habe sehr gerne zugesagt - wenn ich politisch engagierten Menschen dabei helfen kann, dass sie sich wieder gerne engagieren und gegen sexistische Machtstrukturen zur Wehr setzen, habe ich Sinnvolles getan.

Ehrenämter müssen in unserer Kirche normalerweise nicht angezeigt werden; genehmigungspflichtig sind sie in keinem Fall. Ich habe dennoch den stellvertretenden Dekan des Evangelischen Dekanats Büdinger Land, Pfarrer Wolfgang Keller, informiert.

Worin sehen Sie die vordinglichste Aufgabe der Vertrauensleute? Welchen Part sehen Sie für sich?

Unsere wichtigste Aufgabe wird es sein, Betroffenen Unterstützung und Hilfe zukommen zu lassen. In welcher Art und Weise das geschehen kann, richtet sich nach dem Einzelfall. Wir sind uns einig, dass unser Fokus auf der Beratung und Hilfe für Betroffene liegt; Wir bieten ein niedrigschwelliges Angebot.

Mir ist besonders wichtig, dass ich als Pfarrer eine unbedingte Schweigepflicht habe: Allein die Betroffenen entscheiden darüber, was getan wird und was nicht. Meiner Erfahrung nach ist das manchen Betroffenen von sexualisierter Gewalt besonders wichtig: Sie möchten die Herrschaft über ein Verfahren nicht an Polizei oder andere Institutionen abgeben, sondern über jeden Schritt selbst entscheiden.

Aber es gibt noch eine weitere Aufgabe, der wir uns stellen möchten: Es sollen institutionelle und organisatorische Veränderungen in der Partei Die Linke getroffen werden, damit solche Vorfälle wie die aktuell kolportierten sich nicht wiederholen können. Während meiner Zeit als Stadtjugendpfarrer in Gießen habe ich viel Zeit und Energie dafür aufgewandt, dass wir ein Präventions- und Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt für die Evangelische Jugend erarbeitet und implementiert haben. So etwas ist, wenn man es konsequent umsetzen möchte, ziemlich kompliziert, und bedarf enormer Überzeugungsarbeit; und benötigt, ganz nebenbei, auch Geld, und zwar dauerhaft.

Sie sind Pfarrer, eine Nähe zu Glauben und Gott ist nicht unbedingt unter Parteimitgliedern der Linken, also auch von den Betroffenen auf dem Hintergrund eines atheistischen Weltverständnisses, zu erwarten. Ist da ein Seelsorger überhaupt ein geeigneter Ansprechpartner?

Es gibt seit 1990 eine Arbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei der Partei Die Linke - in der Partei sind, so wie ich es wahrnehme, eine ganze Reihe von Christen und auch von Pfarrern engagiert. Aber für mich als Seelsorger ist es erst einmal völlig egal, ob ein Mensch, der ein Gespräch mit mir wünscht, meinen Glauben teilt oder nicht. In einer seelsorglichen Situation geht es ausschließlich um mein Gegenüber. Ich habe während der vergangenen 26 Jahre im Pfarramt gelernt, dass Menschen sich ihre Seelsorger oder Gesprächspartner sehr genau aussuchen. Sie informieren sich oft ziemlich umfassend über die Person, die sie letztlich ansprechen. Es ist also ihre Entscheidung, ob sie mit mir sprechen möchten oder mit einer der beiden Kolleginnen, die beide ein ganz anderes Profil haben als ich. Wir ergänzen uns da, zu dritt, ziemlich gut, finde ich.

Neben den evangelischen Gläubigen in der Stadt Ortenberg betreuen Sie in Ihrem Amt auch die Kirchengemeinden in den Stadtteilen Bergheim und Usenborn. Sie sind zudem federführend für eine neue Publikation zu den Opfern des Nationalsozialismus in Ortenberg und zur Vorbereitung von Tagen der jüdischen Kultur in Ihrer Heimatgemeinde. Wie ist das zu schaffen?

Wir Pfarrer haben ein Privileg: Wir wissen immer, dass wir nie genug getan haben. Dieser Besuch, jene Pressemitteilung, dazu noch das Protokoll, diese Predigt oder jenes Treffen - ich kann mich anstrengen so viel ich will, ich werde niemals alles gut erledigen können, was zu tun ist. Das macht mich einerseits demütig; und andererseits frei.

Natürlich ist mein Amt als Vertrauensmann ein Ehrenamt, was also in meiner Freizeit seinen Raum hat. Es ist aber - so verstehe ich mich - gleichzeitig ein kirchliches Amt: Wir sind entweder Kirche für Andere oder wir sind keine Kirche - ich berufe mich auf Dietrich Bonhoeffer, der diesen Grundgedanken 1944 niederschrieb. In der evangelischen Kirche in der DDR wurde dieses Postulat früh aufgenommen: Wir sind nicht in erster Linie dazu da, um unsere Institution aufrecht zu erhalten; wir sind in erster Linie dafür da, wir Christen, im Geiste Jesu für andere da zu sein.

Einiges von dem, was Sie angesprochen haben, ist schon weitgehend fertig erarbeitet. Ich nutze meine Studienzeit im Sommer dafür, das Übrige noch, so gut ich kann, zu Ende zu bringen.

Martin Schindel, geboren 1963 in Frankfurt, hat in Marburg evangelische Theologie, Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Seit 2000 ist er Pfarrer. Als Seelsorger mit einer halben Stelle in der evangelischen Kirchengemeinde Nidda hatte er von 2013 bis 2016 zusätzlich eine 50-Prozent-Stelle zur Prävention gegen Rechtsextremismus im ländlichen Raum, eine damals einmalige Aufgabe in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Er publizierte unter anderem zur Marburger Theologie im Nationalsozialismus. Seit einem halben Jahr ist er stellvertretender Vorsitzender des Kulturkreises Altes Rathaus Ortenberg. cow

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