Die Logik des Gesetzes

In ihrer ersten Wahlperiode im Bundestag hat die Bad Nauheimer Sozialdemokratin Natalie Pawlik schon Aufgaben übernommen, die die Weltpolitik berühren. Im Moment gibt es Probleme bei der Aufnahme von Spätaussiedlern. Die 30-Jährige will eine Lösung herbeiführen.
Als Bundestagsabgeordnete übernahm Natalie Pawlik aus Bad Nauheim bereits nach einigen Monaten das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Diese Zeitung hat mit der 30-Jährigen über aktuelle Schwierigkeiten von Menschen gesprochen, die nach Deutschland spätaussiedeln wollen. Pawlik stammt aus einer Spätaussiedler-Familie und kam mit sechs Jahren aus Sibirien in die Bundesrepublik.
Sind Sie aufgrund Ihres biografischen Hintergrunds besonders gut für die Aufgabe einer Bundesbeauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten prädestiniert?
Ich glaube, dass meine persönliche Erfahrung mir die notwendige Empathie für die Belange der Aussiedlerinnen und Aussiedler mitgibt. Wenn man es selber erlebt hat und weiß, was in den Menschen vorgeht, ist das sicherlich von Vorteil.
Wurden Ihre Vorfahren unter Stalin nach Sibirien verschleppt und wenn Ja, wieso?
Unter Zarin Katharina der Großen gingen meine Vorfahren aus Deutschland an die Wolga, wo sie jahrhundertelang in deutschen Siedlungen lebten. Als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen und 1941 die Sowjetunion überfallen haben, wurden die deutschen Minderheiten dort von der sowjetischen Regierung in Sippenhaft für die Verbrechen der Deutschen genommen, vertrieben, enteignet und deportiert.
Frauen und Kinder kamen meistens nach Sibirien und Zentralasien, die Männer, aber auch Frauen, in die »Trudarmee«, ein Begriff für Zwangsarbeitslager. So ist es auch meiner Familie ergangen. Durch diese Vorgeschichte kommt es, dass ich in Sibirien geboren wurde.
Wieso bietet die Bundesrepublik an, spätauszusiedeln?
In der gesamten Sowjetunion wurden die deutschen Minderheiten massiv diskriminiert und verfolgt. Sie haben ein massives Kriegsfolgenschicksal erlebt. Die Aufnahme von Spätaussiedlerinnen und -aussiedlern ist Teil des Bemühens der Bundesregierung, sich der Verantwortung Deutschlands für dieses Kriegsfolgenschicksal zu stellen. Parallel dazu fördert und unterstützt die Bundesrepublik Deutschland die Angehörigen der deutschen Minderheit in Mittel- und Osteuropa sowie in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auf Grundlage bilateraler Abkommen. Diese wurden überwiegend nach dem Zerfall der Sowjetunion geschlossen. Das geschieht beispielsweise durch Förderung von Begegnungszentren und gesundheitliche Versorgung für die Erlebnisgeneration, also die Menschen, die die Geschehnisse damals miterlebten.
Wann begannen Sie, sich mit Aussiedlerpolitik zu befassen?
Das war immer Teil meines Lebens und meiner Familiengeschichte. Spätestens, als ich gemeinsam mit meiner Familie im Alter von sechs Jahren in Friedland ankam, wurde mir bewusst: Wir sind anders als die Mehrheitsgesellschaft. Politisch begann ich, mich damit zu beschäftigen, als 2016 der Fall Lisa aus Marzahn publik wurde. Ich merkte: Wenn die Gruppe der Russlanddeutschen medial auftaucht, ist der Kontext ziemlich negativ. Das hat mich gestört und dagegen wollte ich etwas tun.
Welche Voraussetzungen müssen Spätaussiedelnde erfüllen?
Es gibt drei Kriterien nach dem Bundesvertriebenengesetz, um als Spätaussiedlerin oder -aussiedler nach Deutschland zu kommen. Die Menschen müssen nachweisen, die deutsche Abstammung zu haben, etwa durch Urkunden. Zweites Kriterium ist das sogenannte Bekenntnis zum deutschen Volkstum im Aussiedlungsgebiet. Das bedeutet, dass in allen offiziellen Dokumenten nicht beispielsweise »Kasachisch« oder »Ukrainisch« stehen darf, sondern »Deutsch«. Zudem muss die Fähigkeit nachgewiesen werden, ein einfaches Gespräch in deutscher Sprache führen zu können. 2013 wurde das Bundesvertriebenengesetz hinsichtlich des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum gelockert.
Dann kam es zu Änderungen?
Das hat folgenden Hintergrund: Manchmal haben die Behörden eine andere Nationalität als »Deutsch« in den Pass eingetragen, etwa beim Militär. In solchen Fällen wurde die Aufnahme als Spätaussiedler trotzdem akzeptiert, wenn die Betroffenen belegen konnten, dass sie eine Änderung der Eintragung zugunsten des deutschen Volkstums wieder vorgenommen haben. Vorher war das nicht möglich gewesen. 2021, noch zur Zeit meines Vorgängers Dr. Bernd Fabritius von der CSU, urteilte das Bundesverwaltungsgericht aber, dass man das Aufnahmekriterium des Bekenntnisses streng handhaben muss. An diese Rechtsprechung ist das Bundesverwaltungsamt nun gebunden.
In der jüngsten Zeit richten häufig Menschen Appelle an Sie in den sozialen Netzwerken. Welche Sorgen haben diese Personen?
Es gibt Fälle, in denen die Antragsteller die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Kriterien in Bezug auf das Bekenntnis zum deutschen Volkstum nicht erfüllen. Hier muss man betonen, dass die Aufnahme nach dem Bundesvertriebenengesetz nicht nur ethnische Zugehörigkeit voraussetzt, wie manche das glauben. Im Vordergrund steht das Kriegsfolgenschicksal. Da kommen wir in den Konflikt. Ich verstehe, dass diese Menschen großes Leid erfahren. Trotzdem müssen sie in der Logik des Gesetzes bestimmte Kriterien erfüllen.
Vor welcher Situation stehen Ukrainer, die jetzt nach Deutschland flüchten und gleichzeitig spätaussiedeln wollen?
Seit dem Krieg in der Ukraine gibt es für Flüchtende das Härtefallverfahren, sprich, sie kommen nach Deutschland - und können dann in Friedland ins Antragsverfahren für die Spätaussiedleraufnahme gehen, statt dies, wie bisher, vor der Einreise beantragt zu haben. Um als Spätaussiedler anerkannt zu werden, muss aber das erlebte Kriegsfolgenschicksal im Vordergrund stehen und nicht die Flucht. Die derzeitigen Massenablehnungen in puncto Spätaussiedelung betreffen alle, egal, aus welchem Nachfolgestaat sie kommen. Das basiert auf dem bereits erwähnten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Die aktuelle Bundesregierung hat gesetzlich nichts geändert, sondern das Urteil des Gerichts in die Verwaltungspraxis umgesetzt - dazu sind wir verpflichtet.
Als neue Aussiedlungsbeauftragte haben Sie angekündigt, die Situation an die Lebenswirklichkeit der aussiedlungswilligen Menschen anzupassen. Was wollen Sie tun?
Wir wollen bei der Frage des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum das Gesetz wieder an die Lebensrealität anpassen: Angehörige der deutschen Minderheit wurden in der ehemaligen Sowjetunion oft diskriminiert. Bei einigen wurde die Nationalität gegen ihren Willen geändert, bei anderen wurde sie aus Schutz der eigenen Kinder vor Diskriminierung geändert. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen des Bundesinnenministeriums (BMI) habe ich überlegt, wie man das lösen könnte.
Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Die einzige Lösung im Sinne der Betroffenen wäre eine Anpassung des Gesetzes. Ich habe einen Vorschlag gemacht, und die zuständige Fachabteilung des BMIs davon überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Die Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat zugestimmt. Das ist ein großer Erfolg. Jetzt arbeitet das BMI an Formulierungen. Dann geht es darum, dass die Bundesregierung zustimmt. Anschließend muss der Gesetzentwurf den Bundestag und den Bundesrat passieren. Mein Vorwurf politischer Natur ist, dass die CDU/CSU uns unterstellt, die Praxis verschärft zu haben. Auf dem Rücken der Betroffenen versuchen sie, Parteipolitik zu betreiben, indem sie behaupten: Die neue Regierung lässt alle nach Deutschland kommen, nur bei den Russlanddeutschen verschärfen sie die Regeln. Das ist aber nicht wahr.