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Die »Stimme der deutschen Lyrik« zu Gast in Ortenberg

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»Nicht ohne meine ›Frieda‹!« Oliver Stellers Dobro-Gitarre spielt im Programm des Rezitators eine wichtige Rolle. © Detlef Maresch

Schon eine feste Größe in Ortenbergs Kulturangebot sind die Auftritte des Rezitators Oliver Steller. Auch dieses Mal begeisterte er wieder mit seinem Programm in der Galerie am Alten Markt.

Ortenberg (det). Oliver Steller ist längst mehr als ein Gast - er ist eine feste Größe in Ortenbergs Kulturangebot. Dörthe Herrler, Vorsitzende des Vereins Kulturfreunde Galerie am Alten Markt, begrüßte den Rezitator und Musiker, der sein Lyrikprogramm »Von Goethe bis heute« aufführte. Die Galerie hat es nicht nötig, »aufgestylte Location« zu sein. So wie sie ist, strahlt sie Wohlfühlatmosphäre aus. Stellers Auftritt vor so vielen Zuhörern, die ihn seit Jahren schätzen, wurde zur freundschaftlichen Begegnung.

»Genau ein Prozent der Bevölkerung bekennt sich dazu, Interesse an Gedichten zu haben« - mit einer schockierenden Aussage (zumindest für diese Zielgruppe!) eröffnete Steller das Programm und ließ mit »Zu eng! Zu rigide!« die »Gedichte«-Verse Robert Gernhardts folgen. Sie sind selbstironische Attacke auf die Literaturform, die Gernhardt mit meisterlicher Leichtigkeit handhabt. Dann kam »Friedas« Stunde: Mit dieser Dobro-Gitarre, bekannt aus seinen Kinderprogrammen, begleitete Steller Eichendorffs »Schläft ein Lied in allen Dingen«, eine poetische Verbindung aus Klang und Metapher! Solche Verbindung ist sein Markenzeichen.

»Erlkönig« als Psychodrama

Nach dem Musikstudium in den USA und Tätigkeit als freier Musiker mit namhaften Partnern, kam er nach Deutschland zurück und entdeckte mit dem Rezitator Lutz Görner die Lyrik neu für sich. Als Kind hatte sie ihm das diktatorische »Am Montag seid ihr mit Aufsagen dran« der Lehrerin gründlich vermiest. Obwohl er längst den Ehrentitel »Stimme der deutschen Lyrik« trug und seit mehr als zwei Jahrzehnten rezitierend und musizierend auf der Bühne steht, hatte die kritische Pädagogin auch bei einer späten Begegnung mit Steller einiges auszusetzen! Goethes »Erlkönig« verwandelte der Rezitator in ein Psychodrama zwischen Vater, Kind und Dämon, las einen unfreiwillig komischen Schulaufsatz zum selben Thema und einen frechen Rap »Was lehrt uns dies Gedicht?«

Sprachmusik? Steller brachte die Vokale von Else Lasker-Schülers Liebesgedicht »Ein alter Tibetteppich« zum Klingen: »Manche Gedichte muss man zweimal sprechen!« Er schilderte eine Begegnung mit Lyrikerin Hilde Domin und brachte ein beeindruckendes Domin-Zitat: »Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug.« Er bekannte sich zu seiner großen Bewunderung von Lasker-Schüler, Rose Ausländer und Mascha Kaléko. Von letzterer brachte er das Gedicht vom Vogel Pihi mit dem einen Flügel, der sich nur als Paar in die Luft erheben kann, Verse von zärtlicher Märchenhaftigkeit.

Menschlich-Allzumenschliches und Tierisches folgte: Wilhelm Buschs »Eitelkeit«, Christian Morgensterns »Gespräch einer Hausschnecke mit sich selbst« und seine unsterblichen »Drei Spatzen«, Tucholskys »Aus meinem Privatkochbuch« und sein »Kreuzworträtsel mit Gewalt«.

Bert Brecht und Jimmy Hendrix

Steller sprach vom »Haus der Liebesgedichte mit vielen Zimmern«, in den Keller verwies er Brecht und Bukowski. Es wurde ein ausführlicher »Rundgang« durch dieses Haus. So mit Tucholskys abgeklärtem »Der andere Mann« und Steller zitierte warnend: »Wir sind manchmal reizend auf einer Feier… Und den Rest des Tages ganz wie Herr Meier. Beurteil uns nie nach den besten Stunden…« Dazwischen Tucholsky böse Satire »Küsst die Faschisten« und dann wieder zurück zu den Liebesgedichten mit Erich Frieds schönem »Was es ist« und kecken Versen des wenig bekannten hessischen Dichters Paul Pfeffer »Unterm roten Kleid«, die in ihrer raffinierten (Schein-) Kindlichkeit manchmal an Ringelnatz erinnerten. F. W. Bernstein aus der Zeit der Neuen Frankfurter Schule besang die Liebe eher frech: »Vom Standpunkt der Moral/ Ist es Schweinkram und Skandal. Dem Dichter ist das ganz egal.« Liebesgedichte von einem Vertreter der literarischen Aufklärung? Da war Steller etliche skurrile Namensnennungen bis hin zu Oswald Kolle gewohnt, aber er hatte einen seriöseren Vorschlag. Auch Gotthold Ephraim Lessing wusste frivol zu texten, wie Steller mit Versen von der »Schönen Doryllis« und von »Der über uns« bewies. »Wellen« von Marie-Luise Kaschnitz und Jimmy Hendrix’ »Castles made of sand« verwandelte Steller mit Gitarrenbegleitung in eine eindrucksvolle Collage.

Er sprach Goethes »Seliges Erwachen«, machte Hölderlins »Hälfte des Lebens« mit Gitarrenbegleitung zu einem intensiven Hörerlebnis und schloss mit Gernhardts »Abschied«, ehe langer Applaus der Zuhörer den Schlussakzent setzte.

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