Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot!
In seinem Buch »Drehen Sie sich um, Frau Lot!« (das erste Buch, das Kishon ausländischen Verlegern anbot), beschreibt der Satiriker Ephraim Kishon die überbordende Bürokratie in Israel. Ein Buch, das auch sehr gut in die aktuelle Bürokratiediskussion in Deutschland passt.
Wer allerdings im Original nachschlägt (Buch der Bücher = Bibel, Genesis 19), kommt zu dem Schluss, dass es hier heißen müsste: »Drehen Sie sich nicht um, Frau Lot«.
Denn die Städte Sodom und Gomorrha sind dem Untergang geweiht. Gott sendet aber seine Engel, um Lot, seine Frau und die beiden Töchter zu retten. Sie sollen nur nicht zurückschauen.
Lots Frau sieht aber zurück und erstarrt zur Salzsäule (Kein Touristenführer in Israel verzichtet darauf, seinen Gästen die Felsnadel am Toten Meer zu zeigen, die der Legende nach Lots Frau darstellen soll).
War es Neugier, war es die Katastrophe, die sie sehen wollte? Oder hing sie dem Alten nach, wollte sehen, ob ihr Haus nicht doch stehen geblieben ist, der Garten noch grün ist?
Manchmal können wir uns von der Vergangenheit nicht lösen.
Schöne Erinnerungen erfreuen uns über viele Jahre. Geliebte Menschen sind dabei, die von uns gehen mussten. Oft trauern wir lange um sie. Wenn aber unsere Gedanken nur noch in der Vergangenheit weilen, werden Gegenwart und Zukunft bleiern und traurig, fehlt uns jede Perspektive nach vorne.
Dann sollten wir Lots Frau als Mahnung verstehen: Wende Deine Gedanken wieder nach vorne. Lebe weiter, auch für die, die Dir fehlen. Sei für Deine Mitmenschen da, die Lebenden. Die Familie, die Kinder oder Enkel, die Freunde. Gehe Deinen Hobbys wieder nach. Versuche wieder, Freude zu finden. Das ist auch im Sinne derer, die uns vorangegangen sind.
Wir haben eine christliche Hoffnung, dass unsere Verstorbenen bei Gott geborgen sind und ewiges Leben haben. Das findet sich sogar in einer vorchristlichen Legende. Die von Orpheus und Eurydike: Orpheus war ein Sänger, der so schön sang, dass alle Tiere im Walde lauschten. Und eines Tages kam eine junge Frau dazu, in die sich Orpheus unsterblich verliebte: Eurydike. Und die beiden waren ein glückliches Paar, bis Eurydike plötzlich starb. Kein Lied erklang mehr im Wald, Orpheus war untröstlich.
Die Tiere aber wollten wieder ihre Musik haben und beschwerten sich beim Herrn der Unterwelt. Er solle gefälligst Eurydike wieder herausgeben.
Und der Herr der Unterwelt willigte tatsächlich ein. Orpheus solle seine Eurydike holen. Sie solle ihm auf dem Fuße folgen. Orpheus dürfe sich aber nicht umdrehen. Auf den zahlreichen Stufen nach oben hielt Orpheus lange durch. Jedoch: Er hörte ihre Schritte nicht. Schließlich schaute er sich doch um und so mussten beide in der Unterwelt bleiben.
Aber dort, wo Orpheus Musik gemacht hatte, mitten im Walde, wuchsen zwei mächtige Bäume. Und wenn Du dort bist, hörst Du im Rauschen der Blätter die Musik des Orpheus und im Wind den Gesang der Eurydike.
Das ist unsere Hoffnung: Eines Tages wieder mit den Menschen vereint zu sein, die uns jetzt fehlen. Bis dahin aber wollen wir im Hier und Heute leben und dieses Leben auf Erden freudig führen.
Michael Kuhnke,
Pfarrer im Seemental