Eine wechselvolle Geschichte

Im Jahr 1811 hat Turnvater Jahn auf der Berliner Hasenheide das erste Turnfest veranstaltet. Doch der Weg der Turnerjugend in Deutschland war steinig, bis auch in Hessen die Turnvereine aus dem Boden schossen, wie 1845 die Turngemeinde Friedberg. 15 Jahre später wurde der Turnverein 1860 Bad Nauheim gegründet. Ihn zeichnet eine wechselvolle Geschichte aus.
Jahrhundertelang galt sportliche Betätigung als Merkmal adliger Erziehung. So war es eine wahrhaft revolutionäre Idee, als der Lehrer Johann Christoph Friedrich GuthsMuts Ende des 18. Jahrhunderts in den Schulen Leibesübungen einforderte, um die elementare Lebenskraft zu erhalten. Das imponierte auch dem Pädagogen Friedrich Ludwig Jahn. Seine Turnstunden sah er allerdings eher zum Zwecke der patriotischen Erziehung der Jugend.
Staatsgefährdend: Turnen verboten
Die Obrigkeit witterte Aufruhr. In dem Turnerspruch »Frisch, fromm, fröhlich, frei« vermutete sie in dem Wort »frei« die politische Botschaft, sich von den Franzosen und der Kleinstaaterei der Fürsten befreien zu wollen, denn Jahn kämpfte für ein einheitliches Deutschland. Auf dem Höhepunkt der Turnbewegung, am Wartburgfest 1817, zog sich Jahn mit der Bücherverbrennung den Zorn des Fürsten Metternich zu. 1819 kam er in Festungshaft. 1848 wurde er, mittlerweile rehabilitiert, in die Nationalversammlung der Paulskirche gewählt.
Das Turnen wurde 1820 als staatsgefährdend verboten. Erst 22 Jahre danach erkannte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen Leibesübungen »als ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung« an. Damit war der Weg frei für die volkstümliche Turnbewegung. Sport dagegen blieb elitär.
In dem noch nicht zum Bad erhobenen Nauheim heben 38 »junge Männer aller Berufsstände« am 12. November 1860 den ersten Turnverein aus der Taufe, den TV 1860. Der Satzungszweck lautet: »Die Turngemeinde bezweckt die körperliche Ausbildung der männlichen Jugend und ihre Fortbildung zu sittlicher Tüchtigkeit und kräftigem deutschen Sinn.« Geturnt wird im Fritz’schen Garten hinter dem Gasthaus »Zur Krone«. Der Eintrittsbeitrag liegt bei 36 Kreuzer. Die Kleidung des Turners, in der Turnordnung festgelegt, besteht aus »Hose und Jacke von ungebleichter Leinwand«. So beschreibt es Oberbadmeister Fritz Kissel in der Chronik der ersten 50 Jahre.
Der Verein wächst schnell. Bereits 1861 gründet sich eine Gesangsabteilung, mit reger Beteiligung, aber zunächst mäßigem Erfolg. Erst 1904 treten die Turnsänger im Wettbewerb auf und gewinnen in der 2. Klasse den ersten Preis. 1869 denkt man darüber nach, eine Feuerwehr zu gründen (eigener Bericht folgt). Die Turner nehmen an zahlreichen Wettkämpfen teil und kehren oft mit Eichenkränzen zurück. Sie besuchen das traditionelle Feldbergfest, veranstalten selbst mit großem Erfolg Turnfeste und Turntage. Schon im Jahr nach der Gründung laden sie erstmals zum Wintervergnügen, einem festlichen Ball, ein, später auch zu karnevalistischen Veranstaltungen.
Da die Turnplatzfrage immer ein Schmerzenskind des Vereins ist, gründet der Vorstand 1890 einen Turnhallenbaufonds, der zum Erwerb des Grundstücks und dem Bau der Turnhalle in der Hauptstraße führt. Am 4. Februar 1893 wird sie in Betrieb genommen. Als mehrtägiges Großereignis schildert Kissel das Gauturnfest 1907 in Bad Nauheim.
Damenriege und Fechterriege
Der nächste Meilenstein ist ein Jahr später mit der Aufnahme von 19 jungen Mädchen in eine Damenriege. Diese hatte schon sieben Jahre außerhalb des Vereins als Gruppe von »Damen gebildeter Stände« bestanden. Gleichzeitig entsteht eine Fechterriege. 50 Jahre nach der Gründung zählt der Turnverein 504 Mitglieder, unter ihnen Bürgermeister Dr. Gustav Kayser, Ärzte und Beamte sowie 24 Turnerinnen und 45 Zöglinge. Wie in vielen Vereinen, bringen die Jahre des Ersten Weltkriegs auch hier einen Einbruch. Aber der Verein berappelt sich, und vom ersten Nachkriegsturnfest 1923 kehren 40 Turner siegreich heim. Mit dem hauptamtlichen Turnlehrer Willi Sinnwell profiliert sich der Turnverein weiter: Ausgleichsgymnastik für Berufstätige und Frauen wird angeboten, eine Handballmannschaft und Kinderabteilungen werden gegründet, eine Vereinszeitung entsteht, das gesellige Leben wächst. Die Mitgliederzahl steigt auf über 1000.
Erneut zerstört der Krieg das Vereinswesen, danach stuft die US-Besatzung Turnen und Fechten als militaristisch ein und verbietet die Ausübung. Als sich 1945 der VfL Bad Nauheim gründet, schlüpft die Turnabteilung hier unter. Der 1979 wiederbelebte eigene Turnverein nennt sich seitdem Turn- und Gymnastikverein TGV 1860.
Vom Barren zum Hatha-Yoga
Längst haben sich die Disziplinen vom ursprünglichen Turnen an Reck, Barren und Pferd, Freihoch- und Weitsprung und dem bei Wettkämpfen üblichen Steinstoßen zu modernen Formen der Körperertüchtigung hin entwickelt. Aerobic nach Jane Fonda in den 70ern und Rückenschulkurse sind schon wieder Geschichte. Fitness, Nordic Walking, Pilates, Hatha-Yoga und Eltern-Kind-Turnen bestimmen, was Körper und Seele guttut und Freude macht. So war es doch von Guths-Muts gedacht vor mehr als 160 Jahren: »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.«

