Es gibt Hilfe für Reichelsheims Erzieherinnen

Gutes Personal ist schwer zu finden. Das gilt für Erzieherinnen ganz besonders. Der Markt ist leergefegt. Reichelsheim geht neue Wege, um geschlossene Gruppen oder verkürzte Öffnungszeiten zu vermeiden.
Die Kinder lachen, schreien, toben. Das Gewusel in der »Blauland«-Gruppe ist nichts für schwache Nerven. Stefanie Hentschel sitzt mit einigen Kindern am Tisch und spielt Karten. »Ich bin stressresistent«, sagt sie und lächelt entspannt. Die 45-Jährige arbeitet seit Mitte Mai in der Reichelsheimer Kita »Steinbeißer«. Hentschel kann als Pilotprojekt bezeichnet werden: Sie ist eine der pädagogischen Hilfskräfte, die in den städtischen Kindertagesstätten eingesetzt werden - als Unterstützung für die Erzieherinnen.
Ein Jahr lang hatte Kita-Leiterin Jutta Scheibner nach Ersatz für eine kranke Kollegin gesucht. Auf dem Markt war niemand zu finden: Er ist nahezu leergefegt; andere Kommunen zahlen deshalb inzwischen übertariflich. Im November kam eine Erzieherin aus einer anderen städtischen Kita. Doch die Freude währte nur kurz: Im März ging eine Erzieherin zurück in ihre Heimat. Die Suche begann erneut.
Was tun? Auch über Tarif bezahlen? Nein, sagt Bürgermeisterin Lena Herget (SPD), der anzumerken ist, wie sehr sie das Vorpreschen einzelner Kommunen ärgert. Die Wetterauer Gemeinden hätten sich eigentlich versprochen, solidarisch zu handeln, sagt sie.
Helferinnen in der Not
2,9 Millionen Euro gibt Reichelsheim in diesem Jahr fürs Personal im Kita-Bereich aus. Über Tarif zu zahlen, hätte weitere 170 000 bis 200 000 Euro gekostet. Das könne sich die Stadt wegen der anstehenden Großprojekte und Sanierungsaufgaben nicht leisten, sagt Herget. Außerdem würde eine umfangreichere Debatte eröffnet: Wenn die Erzieherinnen mehr Geld bekommen, was ist mit dem Personal im Bauhof, in der Sozialstation, der Verwaltung? »Uns sind alle Mitarbeiter gleich viel wert«, sagt die Bürgermeisterin.
Wenn nicht mit Geld, so sollten die Arbeitsbedingungen in den Kitas doch mit anderen Mitteln verbessert werden. Zu diesem Ansatz gehört zum Beispiel ein Achtsamkeitstag, der zunächst für die Leitungskräfte angeboten wurde, aber ausgeweitet werden soll. Zu den Maßnahmen gegen die drohenden Konsequenzen des Personalmangels - verkürzte Öffnungszeiten, geschlossene Gruppen oder gar Einrichtungen - zählt auch, dass Kita-Leiterin Jutta Scheibner weiter arbeitet, obwohl sie seit Mai in Rente ist. »Ich möchte meine Kolleginnen gut versorgt wissen, bis im Herbst eine neue Leitung kommt.« Insgesamt kann die Stadt auf drei Erzieherinnen im Ruhestand als Springerinnen zurückgreifen.
Hinzu kommen weitere vier Helferinnen in der Not - eine von ihnen ist Stefanie Hentschel. Bis 2020 hat sie in ihrem erlernten Beruf als Friseurin gearbeitet. Dann kam der Corona-Lockdown und die Überlegung, in den sozialen Bereich zu wechseln. Sie machte online einen Betreuungsschein, arbeitete als soziale Betreuungskraft in einem Seniorenheim und sattelte eine IHK-Weiterbildung als Fachkraft für Gesundheits- und Sozialdienstleistungen obenauf.
Weil diese auch Kindererziehung und -betreuung beinhaltete und sie auf Schicht- und Wochenenddienste verzichten wollte, bewarb sie sich im März auf eine Stellenanzeige der Stadt Reichelsheim - und konnte Mitte März anfangen.
Erzieheralltag erlebbar machen
Während sie Karten mit den Kindern spielt, sitzt Silke Henkel auf dem Boden und baut mit anderen an einer Eisenbahn. Allein darf Hentschel die Kinder nicht betreuen, eine Erzieherin muss immer dabei sein. »Meine größte Angst war, dass ich nicht vom Team angenommen werde, weil ich keine Erzieherin bin«, blickt Hentschel zurück. »Das Gegenteil war der Fall, ich gehöre hier einfach dazu.« Das bestätigt Kita-Leiterin Scheibner, die besonders Hentschels ruhige Art schätzt. »Sie ist auch bei den Kindern sehr beliebt.«
Ihr Vertrag ist zunächst auf zwei Jahre befristet, um zu schauen, ob es für beide Seiten passt. Um die Erzieherinnen zusätzlich zu entlasten, wird im September eine junge Frau eine praxisintegrierte vergütete Ausbildung (PivA) zur Erzieherin beginnen und diese drei Jahre in einer Kita verbringen; ein weiterer PivA-Azubi geht in die Jugendpflege. »Wir müssen unsere Kräfte von morgen selbst ausbilden«, sagt Herget. Deshalb wolle sie die Kitas auch für Praktikanten öffnen und für junge Menschen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren wollen. »Dadurch wird der Erzieheralltag erlebbar.« Was dann noch fehlt? Die Entscheidung des Landes, auch solche Kräfte auf den Betreuungsschlüssel anzurechnen und sich an deren Finanzierung zu beteiligen.
INFO: KITAS IN ZAHLEN
Es gibt fünf städtische Kindertagesstätten in Reichelsheim, außerdem die katholische Kita in Dorn-Assenheim und die Montessori-Gruppe in Weckesheim. Hinzu kommen fünf Tagesmmütter. In den städtischen Einrichtungen werden zurzeit 291 Kinder betreut, dafür sind 45 Erzieherinnen angestellt, drei Erzieher und fünf Leitungskräfte. Die Kitas sind montags bis donnerstags von 7.15 bis 16.30 Uhr geöffnet, freitags bis 15 Uhr. »Da schafft man es, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen, wenn man dies möchte«, sagt Bürgermeisterin Lena Herget (SPD).