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Experten sagen: »Pilze können die Welt retten«

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myl_SteffenFruehbis_01072_4c © Myriam Lenz

Pilzcoach Steffen Frühbis aus Ober-Schmitten erzählt über die fast überirdischen Eigenschaften der Lebewesen, deren Zukunft als CO2-Schlucker, Kleidung- oder Verpackungsmaterial.

Viele bekannte Pilzarten entdeckt man schon im Sommer. Champignons beispielsweise schmecken vorzüglich. Die kulinarische Seite bildet jedoch nur einen klitzekleinen Nutzen der Pilzwelt ab. Pilzcoach Steffen Frühbis aus Ober-Schmitten erläutert in einem Interview, wie sehr die Spezies unterschätzt wird und in welchen Bereichen die Pilze eine bedeutende Rolle spielen.

Sie beschäftigen sich seit Ihrer Kindheit mit Pilzen. Was ist das Faszinierende an ihnen?

Das Interesse wurde bereits durch meine Großeltern geweckt. Mein erstes Pilzbestimmungsbüchlein erhielt ich mit sieben Jahren. Es enthält sage und schreibe 18 Pilzarten, und es steht noch immer als Erinnerungsstück bei mir im Bücherregal. Schon damals beeindruckte mich die Formen- und Farbenvielfalt im Pilzreich. Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Mykologie ist mein Anliegen heute, Interessierten die Bestimmung von Pilzen professionell zu vermitteln: Wie geht man systematisch und strukturiert an die Sache ran? Welche Bestimmungsregeln und -merkmale gibt es?

Welches ist für Sie der kurioseste Pilz?

Je länger man sich mit naturkundlichen Themen beschäftigt, desto mehr faszinierende Details entdeckt man. Optisch sehr kurios sind die Schleierdame oder der Tintenfischpilz. Beides sind übrigens Pilzarten, die ursprünglich nicht heimisch bei uns waren. Die Schleierdame fühlt sich erst mit zunehmender Temperatur bei uns wohl und der Tintenfischpilz wurde durch den globalen Handel aus dem australischen Raum zu uns eingeschleppt.

Pilze sammelt man in der Regel im Herbst. Was entdeckt man im Juli?

Viele bekannte Pilzarten finden wir bereits im Frühsommer. Vor drei Wochen fand ich beispielsweise eine große Menge Champignons in der Nähe von Bad Salzhausen. Auch Sommer-Steinpilze oder Hexen-Röhrlinge finden wir grundsätzlich bereits ab Juni. Allerdings muss die Witterung mitspielen. In sehr trockenen Monaten scheuen sich Pilzfruchtkörper, aus dem Boden zu schlüpfen. Pilze sind aber generell nicht an bestimmte Jahreszeiten gebunden. Wir finden auch im Winter bei Eis und Schnee tolle frostfeste Speisepilze wie Samtfußrüblinge oder Austernseitlinge.

Pilze sind wichtig fürs Ökosystem, haben die Fähigkeit, den Boden zu sanieren und von Schadstoffen zu befreien. Können Sie das kurz erklären?

Pilzen und Bakterien verdanken wir es zum einen, dass Totholz und Laub wieder zu Humus und Mineralstoffen verstoffwechselt werden. Das Myzel vieler Pilzarten lebt völlig unbemerkt in der Erde und produziert dadurch immer neuen, frischen Waldboden. Indische und amerikanische Wissenschaftler fanden zudem heraus, dass der bereits erwähnte Austernpilz in der Lage ist, die in Erdöl enthaltenen Kohlenwasserstoffverbindungen in einfache Kohlenhydrate zu zerlegen und quasi zu verzehren. Sie werden dadurch unschädlich für die Umwelt gemacht. Ein anderes Beispiel ist der Hallimasch: Schweizer Forscher erkannten, dass er in seinem Myzel die Substanz Melanin produziert. Melanin ist ein wichtiger Bestandteil von Schwermetallfiltern. Der amerikanische Mykologe Paul Stamets sagt vermutlich nicht ganz zu Unrecht: Pilze können die Welt retten!

Schon jetzt herrscht große Trockenheit. Welche Auswirkungen hat der Klimawandel auf die Pilze?

Pilze als Organismengruppe gibt es unglaublich lange, seit vermutlich 600 Millionen Jahren. Da gab es an Land noch nicht mal Pflanzen. Klingt vielleicht etwas unpopulär, aber auch nach dem Aussterben des Menschen wird es sicherlich noch Pilze auf dem Planeten geben. Ich würde die Frage aber eher umkehren, wenn ich darf. Pilze haben neben den bereits genannten Aufgaben in Ökosystemen auch einen bedeutenden Einfluss auf die Reduzierung von CO2. Eine aktuelle Studie der Uni Kapstadt besagt, dass unterirdische Pilzmyzelien weltweit 36 Prozent aller jährlich produzierten Treibhausgase aus fossilen Brennstoffen schlucken.

Was bedeutet das im Umkehrschluss ...?

Je mehr Flächen wir versiegeln und dauerhaft zerstören, desto mehr vernichten wir fein aufeinander abgestimmte Ökosysteme und dadurch unter anderem auch die darin enthaltenen Pilze mit ihren ausgedehnten Wurzelgeflechten. Uns sollte klar sein, dass wir mit unserem Flächenbedarf dazu beitragen, den Klimawandel weiter voranzutreiben.

Es gibt sechs Millionen Pilzarten weltweit, aber nur 200 000 Arten sind dokumentiert. Welches Potenzial steckt dahinter?

Große Bedeutung kommt Pilzen in der medizinischen Forschung zu. Bereits jetzt basieren viele Medikamente, die für uns alltäglich erscheinen, auf Pilzen.

Welche Beispiele gibt es?

Nehmen wir das Ur-Antibiotikum Penicillin: Antibiotika werden heute zwar synthetisch produziert. Das Original-Penicillin jedoch war ein Stoffwechselprodukt eines Schimmelpilzes. Ein anderes Beispiel: Der Wirkstoff Ciclosporin, der als Immunsuppressivum manchen Transplantationspatienten bekannt ist. Er wird aus einem norwegischen Schlauchpilz gewonnen. Auch in der Krebsforschung liegt das Augenmerk extrem auf Pilzen, insbesondere auf sogenannten Baumpilzen und den Polysacchariden, die sie in ihren Zellwänden bilden. Diese werden bereits jetzt in der Tumortherapie eingesetzt.

Pilze als Lederersatz - wird sich das durchsetzen?

Es gibt in der Tat in Rumänien und Thüringen eine Tradition der Herstellung von Pilzleder aus dem Zunderschwammpilz. Seit einigen Jahren nimmt das Thema mit zunehmendem Veganismus rasant Fahrt auf. Pilzmyzelien werden gezielt gezüchtet, gepresst und verdichtet. Die Uni Wien ist hier wissenschaftlich tätig. Auch einzelne sehr bekannte Mode- oder Schuhhersteller setzen inzwischen auf dieses vegane »Leder« und präsentieren immer wieder Prototypen von Schuhen oder Kleidungsstücken. Im Idealfall ist das Material biologisch abbaubar und ökologisch deutlich unbedenklicher als traditionelle Lederherstellung. Von dem Thema Tier-Ethik ganz zu schweigen.

Aus Zunderschwämmen werden Baumaterial und alternative Verpackungen produziert. Wie ist der aktuelle Stand?

Sowohl die TU Berlin als auch das Fraunhofer Institut forschen seit einigen Jahren daran. Verpackungsmaterial aus Pilzmyzel ist bereits für jeden auf dem Markt erhältlich. Der Vorteil gegenüber Pappe ist: Das Pilzmyzel wird innerhalb weniger Wochen gezüchtet. Wohingegen Papier - wenn auch zum Teil recycelt - letzten Endes meist aus Holz gefertigt wird. Aber unser Holzkonsum ist ohnehin hoch. Da sollte man es vielleicht nicht unbedingt für Verpackungen einsetzen. Auf ähnliche Weise wird an Baumaterial geforscht, aber bisher noch eher experimentell und im Labor. Die weltweite Betonproduktion ist ein großer CO2-Produzent, und Wälder als Holzlieferant sind ohne schon sehr gebeutelt. Daher werden alternative Baumaterialien in Zukunft immer wichtiger werden.

Das Wissen über Pilze ist heute nicht mehr wie früher vorhanden. Empfehlen Sie Apps für die Bestimmung?

Bestimmungs-Apps für Pilze sind eine ganz hervorragende Möglichkeit, sich zuverlässig zu vergiften. Pilze kann man nicht nur durch die Optik bestimmen. Daher rate ich ab.

Gibt es für Unwissende bald ein Nahinfrarotspektroskopiegerät für die Hosentasche?

Jeder Organismus hat in der Tat die Eigenschaft, Lichtwellen unterschiedlich zu reflektieren. Aus der Art und Weise der Reflexion kann geschlossen werden, um welchen Organismus - in diesem Falle um welche Pilzart - es sich handelt. Das Ganze wird in mykologischen Kreisen sowohl für den Infrarot- als auch UV-Bereich diskutiert. Bisher existieren aber lediglich Prototypen.

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