Fall Ayleen am Landgericht Gießen: Die zwei Gesichter des Angeklagten

Für die einen ist Jan P. ein positiv-verrückter, hilfsbereiter und großzügiger Mensch. Für die anderen ist er ungepflegt, unangenehm und aufdringlich. Im Verfahren am Landgericht Gießen um die Tötung der 14 Jahre alten Ayleen geht es auch am Donnerstag darum, was für ein Mensch der Angeklagte ist. Über allem steht die Frage der Schuldfähigkeit.
Es sind wichtige Tage für den psychiatrischen Gutachter im Ayleen-Verfahren am Landgericht Gießen. Der Heidelberger Facharzt für forensische Psychiatrie, Hartmut Pleines, war im Kachelmann-Prozess und im Missbrauchsverfahren von Staufen involviert. In Gießen soll er hinter die oft gleichgültig wirkende Fassade von Jan P. schauen, der vor einem Jahr die 14 Jahre alte Ayleen getötet hat. Da der Angeklagte nicht aussagt, müssen andere für ihn sprechen: Freunde, eine Ex-Partnerin und Frauen, denen er näher kam, als sie es wollten.
Die Aussagen aus dem Lebensumfeld von Jan P. eignen sich nicht dazu, das eigentliche Tatgeschehen aufzuklären. Noch immer wissen die Ermittlungsbehörden nicht, was genau am 22. Juli 2022 zwischen 0.36 und 4 Uhr auf dem Weg zwischen Cleeberg und Espa passiert ist. Klar ist, dass Jan P. das Mädchen nach einer langen Autofahrt von Ayleens Heimatort Gottenheim in Baden-Württemberg nach Mittelhessen dort getötet hat.
Mit bloßen Händen.
Beim Prozessauftakt im Juni hatte der Angeklagte über einen seiner Anwälte andeuten lassen, die Tat nach einem Streit begangen zu haben. Danach hatte er den Leichnam im Teufelsee bei Echzell abgelegt. Die Staatsanwaltschaft wertet dies nicht als Totschlag, sondern als Mord und versuchte Vergewaltigung.
Bereits am Mittwoch hatten Freunde und Bekannte vor der akribisch arbeitenden 5. Strafkammer ausgesagt und das Bild eines Mannes gezeichnet, der hilfsbereit und nett sein kann. Auffällig ist, wie großzügig Jan P. zu sein scheint - obwohl er Sozialhilfe erhält und nebenbei als Wachmann gearbeitet hat. Den Arbeitskollegen, die hinter seinem Rücken über seine fehlende Hygiene lästerten, bezahlte er die Tankfüllung oder das Essen für alle. Eine Freundin konnte dank einer Vollmacht jederzeit Geld von seinem Konto abheben - laut ihrer Aussage ohne Gegenleistung. Es wirkt beinahe so, als ob er sich so die Zuneigung von Menschen sichern wollte, denen er nicht auf Augenhöhe begegnet.
Und dann ist da der andere Jan P. Der tagsüber digital auf Streifzug ging und auf über mehr als 20 Kommunikationswegen wie Snapchat, Whats-App, Dating-Apps oder Insta-gram unzähligen Frauen Tausende Nachrichten schrieb - in der Regel mit dem Hintergedanken, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Vor allem Mädchen bot er an, ihr Sugar Daddy zu sein und Geld für intime Bilder - oder mehr - zu zahlen. Ayleen soll er aufgefordert haben, Sex mit ihrem jüngeren Bruder zu haben. Ein Gießener Ermittler spricht deshalb von einem Fehlen von Moral und der Kenntnis gesellschaftlicher Regeln und Normen bei Jan P.
Da ist zum Beispiel eine 19-Jährige aus Mittelhessen. Jan P. hatte sie im April 2022 über Snapchat angeschrieben. Neben Alltagsfragen wie »Wie geht’s?« oder »Was machst du gerade?« habe der Angeklagte schnell Nacktbilder gefordert. Dies habe sie verneint. Dann habe er auf ein Treffen gedrängt, erzählt die junge Frau. »Das habe ich auch abgelehnt.«
Die Abfuhr schien Jan P. nicht akzeptiert zu haben. Weil er über Snapchat den Standort der 19-Jährigen herausfinden konnte, sei er am 30. April mit seinem Auto vor ihrem Haus aufgetaucht. Etwa eine Stunde habe er sich dort aufgehalten, sei immer wieder aus- und eingestiegen, erzählt sie. Außerdem habe er ihr in dieser Zeit ein Foto geschickt, auf dem ihr Haus zu sehen war. Die 19-Jährige hielt sich jedoch in der Küche versteckt. Nachdem er wieder verschwunden sei, habe er ihr geschrieben, dass er sie kennenlernen, mit ihr reden wollte. Die Zeugin sagt: »Worüber sollen wir miteinander reden? Man fährt doch nicht einfach irgendwo hin und wartet vor dem Haus.« Zu Ayleen fuhr er zwei Monate später - obwohl sie dies immer wieder abgelehnt hatte. Wohl wegen der Drohung, ihrem Vater alles von den ausgetauschten Intimbildern und -videos zu erzählen, stieg sie bei ihm ein.
Oder eine ebenfalls 19 Jahre alte Frau aus Baden-Württemberg: Sie erzählt im Zeugenstand, dass Jan P. sie Anfang Juli 2022 auf mehreren Plattformen angeschrieben habe. Auch bei ihr ging es kurz um Alltagsthemen und die Arbeit. Jan P. habe erzählt, er sei in der Sicherheitsbranche tätig, beschütze oder beschatte Menschen. Schnell sei es um sexuelle Themen gegangen. Er habe ihr Fragen zu ihren sexuellen Vorlieben gestellt sowie intime Bilder und Videos von sich geschickt. Gleichzeitig habe er auch von ihr solche Bilder gefordert. Jan P. habe früh davon gesprochen, eine Beziehung mit ihr einzugehen; er wünsche sich so viele Kinder wie eine Fußballmannschaft.
Am Vormittag, nachdem er Ayleen getötet hatte, schickte Jan P. der Frau ein Masturbationsvideo von sich. An jenem Tag, erzählt die 19-Jährige, sei er »gut drauf« gewesen. Drei Tage später traf er sich mit ihr in Baden-Württemberg - »bewusst an einem öffentlichen Ort«, erzählt die Zeugin. In einem Schuhladen habe Jan P. ihr Schuhe gekauft, die sie sich nicht habe leisten können. Dann habe er darauf bestanden, sie nach Hause zu fahren. »Am Anfang habe ich das abgewehrt, aber gemerkt, dass das keinen Sinn macht.«
Jan P. sei mit in ihr Zimmer gegangen. Dort habe er sie immer wieder von hinten umarmt und versucht, sie aufs Bett zu ziehen. Dabei habe er ihr gesagt: »Warum willst du nicht, mach es doch, es ist nicht schlimm.« Sie habe ihm aber immer wieder deutlich gemacht, dass sie dies eben nicht will. Der Angeklagte habe daraufhin genervt reagiert, sie weiter unter Druck gesetzt. Er habe erst von ihr abgelassen, als sie ihm erklärt habe, sie müsse nun wirklich noch eine andere Verabredung wahrnehmen. Danach habe sie den Kontakt abgebrochen. »Ich habe ihm vertraut, wollte ihn kennenlernen, aber das war vorbei nach dem Vorfall bei mir zu Hause.«
Laut der Ex-Freundin von Jan P. sei er »normal, höflich, hilfsbereit« aber auch sehr eifersüchtig. Der Vermieter der Familie hatte am Vortag dem Schwurgericht noch von einer Situation berichtet, als er die heute 26 Jahre alte geistig eingeschränkte Frau aus einem verschlossenen, vermüllten Zimmer mit einem Eimer mit Fäkalien geholt habe, während Jan P., seine Schwester und seine Mutter in der Küche gesessen hätten. Daran, sagt die Frau am Folgetag, könne sie sich nicht erinnern. Daraufhin herrscht Sprach- und Ratlosigkeit im Gerichtssaal.
Schon wieder.