Sitzplatzreservierung für die Kirche

Ein gut 230 Jahre altes Buch offenbart eine kuriose Praxis für Kirchenbesuche in Leidhecken. Damals konnte man in der Gemeinde offenbar Sitzplätze gegen Bezahlung reservieren lassen.
Leidhecken (lut). Als kleinen Sensationsfund kann man ein historisches Buch bezeichnen, das Jürgen Reuß im Mai im Internet fand. Der Florstädter Stadtarchivar erwarb in Auftrag der Stadt das »Stuhlregister von 1790« der evangelischen Kirchengemeinde Leidhecken. Damit lässt sich in der Region ein Verfahren nachweisen, dass man sonst nur aus der Pfalz und Franken kennt.
Mit diesem Buch regelte die evangelische Kirchengemeinde die Vergabe von Sitzplätzen in der Kirche gegen Gebühr.
Der dortige Arbeitskreis Dorfgeschichte um Wolfgang Zeuner, Roland Schumann und Richard Menzel ist vollkommen aus dem Häuschen vor lauter Begeisterung. Die Begeisterung ist groß angesichts des historischen Funds, der auch überraschend gut erhalten ist. Und ihre Recherchen ergaben, dass in der näheren Umgebung nirgends eine ähnliche Verfahrensweise bekannt ist. Jürgen Reuß hat die Existenz ähnlicher Register lediglich in der Pfalz oder in Franken bestätigen können. Für Hessen oder gar die Wetterau haben die Hobby-Historiker bislang keine Belege gefunden.
Suche im Internet
Reuß durchforstet einer alten Gewohnheit folgend immer wieder Internetportale nach historischen Schriften und Büchern. Diese jüngste Kostbarkeit stammt von einem pensionierten Pfarrer aus Kassel, der nun im fortgeschrittenem Rentenalter seine über Jahrzehnte zusammengetragene Sammlung wieder an ihre Ursprungsgemeinden zurückgeben möchte. Er selbst erwarb das Leidhecker Stuhlregister von einem pensionierten Studienrat aus Wetzlar, der allerdings bereits verstorben ist. Von ihm ist nur bekannt, dass er gerne Bücherflohmärkte besuchte. Ansonsten ist nichts weiter zur Odyssee überliefert, die das historische Buch hinter sich haben dürfte. »Es macht einen erstaunlich guten und rundum unbeschädigten Eindruck«, beschreibt Roland Schumann den Zustand des Registers. Und Richard Menzel fügt hinzu: »Es lässt erahnen, dass seine jeweiligen Besitzer es stets gut behüteten.« Es hat die Maße 17,5 auf 20,5 Zentimeter, ist eingebunden in robustes Schweinsleder und zählt mehrere hundert Seiten aus festem Büttenpapier, fast ohne Stockflecken. »In schwungvoll kalligrafischer Handschrift trägt es den Titel »Stuhlregister«, es ist zu etwa einem Drittel beschrieben«, erklärt Wolfgang Zeuner.
Die Hobby-Historiker fanden Namen, die heute noch in Leidhecken bekannt sind. Trotz des Alters des Bands von über 200 Jahren geht sein Ursprung auf die Reformation im Jahr 1517 durch Martin Luther zurück. In den bisher traditionellen katholischen Kirchen mit überlicherweise kürzeren Gottesdiensten saßen nur wenige, privilegierte Gläubige. Der Rest der Besucher musste stehen oder knien. Dies änderte sich durch die Neuerungen, die der Reformator schließlich einführte. Demnach dauerte eine Predigt mindestens eine Stunde. Zu ihrer konzentrierten Verinnerlichung baute man Stühle und Bänke in die Gotteshäuser ein.
Das für Leidhecken wieder aufgetauchte alte Buch trägt den Innentitel »Stuhlregister über die Weiberstände in der Kirche zu Leidhecken Anno 1792 nebst Anhang der fürstlichen Stuhlordnung, (die) als Gesetz beobachtet wird.« Dabei entdeckte man, dass das Stuhlregister lediglich für Frauen galt. Alle Veränderungen waren gebührenpflichtig und mit der Zeit eine gute Einnahmequelle. Quasi ein Vorläufer der heutigen Kirchensteuer.
Das Nachschlagewerk gibt nicht preis, ob auch die Plätze der Männer aufgelistet und angemietet waren. In der reformierten Kirchengemeinde spielten die Männer - grundsätzlich saß man im Gotteshaus getrennt nach Geschlecht und Stand - keine wesentliche Rolle, solange sie ihre Plätze auf der Empore aufsuchten. Es ist aber verbrieft, dass es um die Sitzordnung meist bei den Frauen zu Streitigkeiten kam. Ähnliches Gezänk wird wohl der Anlass für die geordnete Platzvergabe in Leidhecken gewesen sein. Eine strenge Hierarchie und genaue Buchführung ist auch aus dem Leidhecker Stuhlregister zu entnehmen. Anlass genug für den Leidhecker Arbeitskreis Dorfgeschichte das Nachschlagewerk weiter zu durchforsten und als kleinen Schatz gut zu hüten.
