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Als die Amis noch Kaugummis an Kinder verteilten

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Von: Jürgen Wagner

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Wie war das damals, als die US-amerikanischen Soldaten in der Wetterau stationiert waren? Dieser Frage geht Carsten Tabel nach einem Roman und einem Film nun auf der interaktiven Internetseite www.digitalfolktale.com nach. © pv

Die Erinnerungen der Wetterauer an die Stationierung amerikanischer Soldaten sind noch frisch. Carsten Tabel sammelt sie auf einer Internetseite über deutsch-amerikanische Begegnungen.

Was Uta Jeide-Stengel als Kind in Butzbach erlebte, kennen viele Wetterauer: Waren US-Soldaten in Sicht, liefen die Spielkameraden mit Uta zur Straße und schoben sie nach vorne, damit sie nett lächelt. Dann regnete es Süßes: »In Stanniol verpackte Trockenmilch, kreisrunde Kakaoteilchen, manchmal auch einen Bonbon oder einen Kaugummi, ›Tschewinggumm‹ genannt«. Die Leckereien wurden verteilt und heimlich im Hinterhof verzehrt. »Danach reinigte ich die Mundwinkel gründlich mit Spucke, denn ich konnte mir ausmalen, was passieren würde, hätte mein Vater Verdacht geschöpft.«

Das ist nur ein kurzer Aussschnitt aus einer von vielen Erinnerungen, die der Autor und Filmemacher Carsten Tabel auf der Webseite www.digitalfolktale.com sammelt. Seit etwa einem Jahr arbeitet der in Friedberg geborene und in Florstadt aufgewachsene Tabel an den »Begegnungen, Erlebnisse und Freundschaften zwischen Amerikanern und deutschen Zivilisten in der ehemaligen Garnisonsstadt Friedberg und deren Umgebung«. Für ihn ist die Seite »wie ein Onlinemagazin aus der Anfangszeit des Internets, als Ort einer partizipatorischen, digitalen Geschichtsschreibung«.

Alles begann mit dem Roman »Vier halbe Amerikaner«, 2022 im Marix-Verlag erschienen: Vier vaterlose Kinder deutscher Mütter und amerikanischer Soldaten identifizieren sich auf tragikomische Weise mit dem Land der Väter; es folgt ein Roadtrip durch die USA auf der Suche nach der eigenen Identität. Das Thema ließ Tabel nicht los, der fiktionalen sollten wirkliche Geschichten folgen. So entstand der Doku-Film »Potentially Good« (2021), der den Wechselwirkungen zwischen Rebellion und Gehorsam am Beispiel von Elvis’ Militärzeit in Friedberg untersucht; im Frühjahr wird er auf der Internetseite veröffentlicht.

Für den Film führte Tabel Interviews, etwa mit Alt-Bürgermeister Michael Keller oder mit Klaus-Kurt Ilge, dem wohl berühmtesten noch lebenden Elvis-Zeitzeugen aus der Wetterau. Im Film sind davon Ausschnitte zu sehen, auf der Internetseite werden die Interviews komplett veröffentlicht. So erzählt Ilge von seiner Rolle als Rebel der Familie.

Rockmusik von Elvis bis zu den Beatles

Neben Zeitzeugenberichten finden sich auf der Internetseite auch ein Glossar mit Stichworten wie »Friedberg/Hessen« (»Die ganze Kaiserstraße entlang sind an den Wochenenden die Amerikaner in Horden auf und ab gezogen«) oder »Central Studio« (»Dreh- und Angelpunkt des Friedberger Nachtlebens«) sowie Essays. Max Molly widmet sich dem »Typus des Amerikafans«: »Die Zunge des Wetterauers liegt etwas zu dicht am Gaumen. Er rollt das ›r‹ als käme er von der anderen Seite des Ozeans. Eben nicht wie im Süden, gar Bayern, denen das tiefe Grummeln, das tragende Raunen fehlt. Aber auch nicht wie Till Lindemanns blechernes r, das nach Osten klingen soll. Sondern wärmer, einnehmender und kumpelhafter. Der Wetterauer fühlt sich dem Amerikaner nahe, noch bevor der erste chewing gum gekaut war. Kein Wunder, dass es hier viele Amerika-Fans gab.«

Ein Interviepartner ist der Gitarrist Stefan Platen. »Love me do« von den Beatles war seine Initialzündung, Platens »Hollows« wurden in den 1960ern zu Hessens bester Rockband gewählt. Die Wetterau ist nach wie vor ein gutes Pflaster für populäre Musik aus den USA.

Was Tabel seit der Kindheit fasziniert, ist »die Idee der USA von einem besseren Land«. Dass die Wirklichkeit dem Ideal oft einen Strich durch die Rechnung macht, weiß er. »Mit dem kulturellen Output aus den USA kann ich auch heute noch viel anfangen.« 2016 lebte er dank eines Stipendiums des Landes Sachsen drei Monate in Ohio. »Ich würde sofort wieder hinfliegen. Die Solidarität der Menschen dort ist großartig.«

Tabel würde sich wünschen, dass sich noch mehr Menschen an seinem Projekt beteiligen. Als er 2022 im Friedberger Klosterbau aus seinem Roman las, veröffentlichte die WZ eine Doppelseite mit Erinnerungen an die Zeit der US-Stationierung. Auch diese Berichte sind auf der Internetseite zu finden.

Webseite wird laufend aktualisiert

Die Optik der Seite ist gewöhnungsbedürftig. Sie sieht aus, als stamme sie aus den Anfangszeiten des Internets. Mit Absicht. Tabel: »Wir wollten zeigen, wie sich das Internet hätte entwickeln können.«

Immer am 15. des Monats werden neue Beiträge veröffentlicht. Als nächstes folgt der zweite Teil des Interviews mit Reed Kimborough, der 1958 als Kind nach Friedberg kam. Sein Vater war der erste Offizier, dem Elvis unterstellt war. Tabel: »In einer Gesprächsrunde mit drei Wetterauer Skateboardern, die ihn von damals kannten, erzählt er von der Integration der Schwarzen in der US-Armee.«

Das Projekt wird gefördert durch Mittel aus dem Kulturfonds der Bundesregierung. Wer das Projekt durch Spenden unterstützen will, findet alle benötigten Infos unter https://ko-fi.com/digitalfolktale.

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Der Autor und Filmemacher Carsten Tabel lebt in Leipzig, recherchiert aber oft in seiner Heimat, der Wetterau. © pv

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