Das Bedürfnis nach Antworten

Friedberg (hms). Die neue Saison »Friedberg lässt lesen« begann am Donnerstag mit einer Überraschung. Die Besucherinnen und Besucher der »Blind-Date-Lesung« erfuhren erst am Abend der Veranstaltung von »Friedberg lässt lesen«, wer kommen würde. Sicher war, es wird eine oder einer der 20 Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023 sein. Es kam Necati Öziri mit seinem Debütroman »Vatermal«.
Hier hatten die Organisatoren einen guten »Instinkt«. Öziri hat es auf die Shortlist geschafft, die gestern Vormittag veröffentlicht wurde.
Für eine Buchhandlung ist es ein Ereignis, einen oder eine der 20 Nominierten präsentieren zu können, bevor feststeht, wer auf die Shortlist kommt oder gar, wer den Preis gewinnt. 172 Romane standen in diesem Jahr zur Auswahl.
Seit Jahren hatte Friederike Herrmann, Besitzerin der Buchhandlung Bindernagel, auf eine dieser »Blind-Date-Lesungen« gehofft. In diesem Jahr wurde sie gelost. Zehn Tage vor der Lesung erfuhr sie auch, wer seinen Roman in Friedberg vorstellen würde.
»Es war ein großes Glück, dass wir Sie bekommen haben«, sagte sie, denn sie ist von dem Erstlingsroman des 34-jährigen Necati Öziri tief beeindruckt. Und nicht nur sie: Der junge Autor, der als Dramaturgieassistent am Maxim-Gorki-Theater in Berlin arbeitete und sich mit eigenen Stücken in Berlin, Zürich und Mannheim einen Namen machte, verstand es, das zahlreiche Publikum zwischen kurzen Leseteilen im Gespräch zu begeistern.
Feinfühlige Szenen über den Vater
In seinem Roman »Vatermal« geht es um den todkranken jugendlichen Arda, der im Krankenhaus mit seinem abwesenden Vater einen fiktiven Kontakt aufnimmt. In feinfühlig erzählten Szenen lotet Öziri Möglichkeiten aus, wie Arda ihn erlebt haben könnte. Aber der Vater verließ früh die Familie in Deutschland, um in die Türkei zurückzukehren, wo er doch wusste, dass er dort als Linker verhaftet werden würde. Dabei geht es Arda nicht um Vorwürfe oder gar eine Abrechnung, sondern darum, dass er selbst vom Vater mit seinen Lebensepisoden, Ängsten und Freuden gesehen wird. Zitat: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«
Man folgt der Schwester, die seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr zur Mutter hat, der Mutter in ihre Kindheit, den Freunden, der möglichen jetzigen Familie des Vaters. Öziri sagt selbst, er will den Figuren in seinem Buch nahe sein, Empfindungen schildern, nicht Ereignisse nacherzählen. So schafft er es, über Seiten hinweg nicht das Wort Erdbeben zu erwähnen, aber das Erleben hautnah spüren zu lassen. Einen schlaksigen Jungen beschreibt er mit einem »Gang, der baumelte, wie ein Ast im Wind«.
Öziri ist ein Autor, der sich ernsthaft mit Rassismus, Zeitgeschichte und Politik auseinandersetzt. Er betrachtet die Entwicklung türkischer Jungen zu Paschas unter verschiedenen Erziehungsvoraussetzungen und durch ihre Vorbilder. Er zeigt auf, wie generationenübergreifend Vertrauen wächst oder verspielt wird. Und das alles in einer berührenden Art, in ergreifenden Bildern, fragend und antwortbereit. »Ich glaube, jedes Kind hat das Bedürfnis, Antworten von seinen Eltern zu bekommen«, sagt er. Seine türkischen Wurzeln trägt er in Namen und Gebräuchen wie Gaben durch das Buch.
Es gibt natürlich biografische Parallelen: Auch der kleine Necati ist ohne Vater aufgewachsen, in einem tristen Ort im Ruhrgebiet. Er wurde nach dem Abitur Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung, studierte in Deutschland und der Türkei Germanistik und Philosophie. »Man bekommt keine Zustimmung, wenn man als junger Mensch sagt, ich will was mit Literatur machen. Aber ich wusste, ich muss das tun«, versichert er. »Das beste Buch ist das, das man zuschlägt und feststellt, es hat mir ein bisschen zu viel zugemutet. So darf die Welt nicht sein.«
Dieser Welt will er etwas entgegensetzen, als Angebot. Es gehe doch immer um die Dinge, die man nicht sieht, um den Hintergrund bei Geflüchteten, um den Widerspruch im Rassismus, um das Aufwachen in Armut. »Eine Gesellschaft wird nicht von heute auf morgen faschistisch. Das wird von langer Hand vorbereitet. Man muss erst langsam abstumpfen. Bis zur NSDAP hat es 14 Jahre gebraucht. Wir können das zurückrechnen«, appelliert er fast flehentlich an das Publikum, wachsam zu sein.
Die Ernsthaftigkeit, mit der Necati Öziri über die Gegenwart in Literatur und Gesellschaft spricht und schreibt, offenbart Reife und Klugheit, Empathie und Entschlossenheit. Dabei hat er das Lächeln im Mundwinkel und Augen für das ganz Alltägliche. Ein Autor, wie man ihn sich nur wünschen kann für den Deutschen Buchpreis 2023.
