Der Weg zum Wesentlichen

Friedberg (gk). »Minimalismus«: So lautet das Motto der aktuellen Vortragsreihe von »Kultur auf der Spur«. War es im vorhergehenden Referat um die stoische Philosophie der Antike als Inbegriff einer »minimalistischen« Ethik gegangen, so kreiste der Vortrag von Dr. Matthias Recke am Montagabend im Bibliothekszentrum Klosterbau um Bestrebungen des »Minimalismus« in der griechischen Kunst der Antike.
Um diesen schillernden Begriff nicht zum inhaltsleeren Schlagwort verkommen zu lassen, sei es geboten, so der Referent, erst genau hinzuschauen, um dann ein fundiertes Urteil fällen zu können. Dank einer Vielzahl präsentierter Lichtbilder wurde der zahlreichen Hörerschaft dies aufs Beste ermöglicht.
Wie steht es mit Diogenes als Motiv für antike Kunstwerke - hauptsächlich Büsten und Statuen? Bekanntlich ist der Mann aus dem kleinasiatischen Sinope wie kein zweiter zum Inbegriff einer »minimalistischen«, d. h. radikal bedürfnislosen Lebensform geworden. Seine Anhänger nennen sich »Kyniker« - nach »kynos« = Hund. Eine Vielzahl von Anekdoten rankt sich um den in einer Tonne hausenden Mann.
Völlig »entblößt« auf Vasen
Ist, so fragte der Referent, ein Werk, das diese Figur künstlerisch verewigt, vom Geist des »Minimalismus« inspiriert beziehungsweise lässt sich hier von Identifikation des Künstlers mit seinem Gegenstand sprechen?
Am Beispiel einer Diogenesstatue und einer -büste sowie eines motivgleichen Bildes von Gérome aus dem Jahr 1860 verneinte Dr. Recke diese Frage. Aufwendige Form und schlichter Inhalt stünden in allen drei Fällen klar ersichtlich im Gegensatz zueinander. Muten demgegenüber die mehr als 4000 Jahre alten kleinfigurigen »Kykladenidole« in ihrer radikalen Beschränkung aufs Wesentliche einer menschlichen Gestalt nicht nur verblüffend »modern« an, sondern sind auch Musterbeispiele einer »minimal art«, die sich nicht nur bei modernen Künstlern wie Picasso, Brancusi, Henry Moore und vielen anderen hoher Wertschätzung erfreut? Dr. Recke ließ die Frage offen und wandte sich nun den Gattungen Vasenmalerei und Grabskulptur zu.
Werden zum Beispiel Krieger auf Vasenbildern bis in die Zeit um 400 v. Chr. in immer aufwendigeren, prunkvolleren Rüstungen dargestellt, so vollzieht sich in den darauf folgenden kriegerischen Jahrzehnten ein deutlicher Wandel: Die tapferen Helden werden künstlerisch zunehmend schlichter, »spartanischer« drapiert, bis sie auf den Vasen schließlich völlig entblößt ihre Kräfte im Kampf messen müssen. Ganz offensichtlich liegt diesem Phänomen, so Dr. Recke, eine Art weltanschaulicher »Paradigmenwechsel« zugrunde. Die mit großer Grausamkeit geführten Perserkriege hinterlassen ihre Spuren im griechischen Denken, wie es am eindrucksvollsten in Thukydides’ schonungslos realistischer Geschichte des peloponnesischen Krieges zum Ausdruck kommt.
Für die zeitgenössische Kunst bedeutet dies: zurück zum Wesentlichen, Verzicht auf jeglichen Zierrat. Zurecht darf in solchem Fall von »Minimalismus« gesprochen werden. Ähnliches gilt für den Bereich der Grabplastik bzw. -skulptur. Werden Grabmonumente bis in die Zeit um 300 v. Chr. immer prächtiger bis hin zur Ausstattung mit vollplastischen Figuren, so schlägt diese Entwicklung in den folgenden Jahrzehnten in ihr Gegenteil um: In der Epoche des endgültigen Niedergangs der autonomen griechischen Stadtstaaten findet eine radikale künstlerische Rück- bzw. Umkehr zum Schmucklosen statt.
Auch diese Entwicklung spiegelt einen epochalen weltanschaulichen Wandel wider, so der Referent am Ende seines mit viel Beifall bedachten Vortrags.