Ein faszinierender Kosmos

Friedberg (gk). Sonntagabend im Chor der Stadtkirche: Die bereits zum fünften Mal vor Ort aufspielende Klezmerformation »Naschuwa« lässt das Abschluss-Konzert der diesjährigen »Friedberger Sommerkonzerte« zum zweistündigen Erlebnis werden.
Bevor Frontmann Matthias Helms (Geige und Gesang), Gitarrist Thomas Damm, Bassist Thore Benz und Rainer Ordner am Akkordeon das zahlreich erschienene Publikum zu wiederholten Ovationen hinrissen, wurde Kantor Ulrich Seeger als Leiter der 29. Sommerkonzertreihe mit warmen Worten und einer Flasche edlen französischen Rotweins für sein langjähriges vorbildliches Wirken geehrt.
Unvergleichliche Musik
Seit der Neubelebung des Klezmer in den USA der 1970er Jahre haben die z. T. jahrhundertalten Lieder der jüdischen Hochzeitsmusiker (hebr. klezmorim) mit osteuropäischen religiösen Wurzeln ihren Siegeszug durch die ganze Welt angetreten. Worin liegt das anhaltende Faszinosum dieser unvergleichlichen Musik, die ihren rituellen Charakter längst verloren und zahlreiche Impulse anderer Musikstile wie Jazz oder Gipsy aufgenommen hat?
Bereits die ersten Titel »Naschuwas« - u. a. ein Song aus dem 1938 gedrehten Film »Mamele« mit einem furiosen Bass-Solo von Thore Benz - zogen die Hörer in ihren Bann. Die vier seit über 30 Jahren gemeinsam aufspielenden Musiker sind Meister ihrer Instrumente und Thomas Damm darüber hinaus ein Gesangs- und Erzähltalent von hohen Graden. Mit einem Repertoire, das auch liturgischen Synagogalgesang und zeitgenössische israelische Lieder umfasst, zieht »Naschuwa« wie einst die »Klezmorim« durch die Lande - dies alles im Dienst der deutsch-jüdischen bzw. -israelischen Verständigung.
»Fiedler« und Sänger Matthias Helms gab - ein guter Einfall! - etliche Kostproben aus seinem unerschöpflichen Vorrat an jüdischen Witzen zum besten. Sie zogen sich wie ein roter Faden durchs Programm. Im Unterschied zur meist öden einheimischen »Witzkultur« wird im jiddischen Witz niemand bloßgestellt, werden keine abgeschmackten Schlüpfrigkeiten zum Besten gegeben. Gelacht wird ausgiebig - aber meist in ironischer Absicht über sich selbst. Aus diesen Witzen spricht der oft prekäre Alltag einer jahrhundertelang diskriminierten und ausgegrenzten Minderheit, die sich u. a. dank ihrer »Chuzpe« (dt. etwa »Unverfrorenheit«) durchs Leben lavieren musste.
»Mein Schtetl«: Dieser Titel beschwört das bis ins 19. Jahrhundert relativ unbeschwerte Leben in den osteuropäischen, fast nur von Juden bewohnten Kleinstädten. Es war ein Kosmos, der vom millionenfachen NS-Judenmord gänzlich ausgelöscht wurde und seitdem nur noch in melancholischen Liedern oder Geschichten »weiterlebt«.
Gitarrist Damm hatte zweimal Gelegenheit, sich an der Basstrommel zu profilieren. Dieser Rhythmus geht unmittelbar ins Blut. Gleiches gilt für Thore Benz am Kontrabass. Absolutes instrumentales Highlight war jedoch das virtuose, »weltmeisterliche« Akkordeonsolo von Rainer Ortner, das den längsten Zwischenapplaus erhielt. Eine großartige Leistung, die das »Gefühlsspektrum« der jüdischen Musik in unüberbietbarer Verdichtung zum Klingen bringt.
Facettenreiche Emotionen
Überschäumende Daseins- und Erzählfreude, unbeschwerte Heiterkeit, Melancholie, Trauer, Verzweiflung: Nur unzureichend können Worte das zum Ausdruck bringen, was die Klezmermusik erklingen lässt. Vor allem darin besteht wohl ihr Faszinosum, nach dem oben gefragt wurde.
Wer ist »Feirous«? Eine palästinensisch-libanesische Singer-Songwriterin, deren arabische Lieder zum Teil frappante Ähnlichkeit mit den gehörten Klezmermelodien aufweisen. Dies vorgeführt zu haben, war ein weiterer Pluspunkt des »Naschuwa«-Konzerts, das nach Standing Ovations und mehreren Zugaben schließlich ausklang. »Le chaim« - Auf das Leben!
