Ein faszinierendes Stimmengeflecht

Friedberg (gk). Der »Kangal« ist ein anatolischer Hirtenhund. Sein Name steht für Mut und Tapferkeit, denn er nimmt es sogar mit Wölfen auf, die die ihm anvertrauten Schafe reißen wollen.
»Kangal1210« ist gleichzeitig der Internetdeckname von Dilek, der Hauptfigur in Anna Yeliz Schentkes gleichnamigem, 2020 entstandenen Kurzroman, der es aus dem Stand bis auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat. Die junge Autorin stellte ihr Erstlingswerk im Bibliothekszentrum Klosterbau vor und erntete nach anderthalb Stunden viel Beifall dafür.
»Kangal« ist ein kunstvoll geknüpfter »Teppich« aus drei Stimmen, die sich abwechseln, ergänzen, überschneiden, widersprechen. Das multiperspektivische Verfahren ermöglicht es der Autorin, die politische Realität in der Türkei seit den niedergeknüppelten studentischen Protesten auf dem Taksim-Platz im Jahr 2013 und dem gescheiterten Militärputsch vom Juli 2016 auf eindringliche Weise lebendig werden zu lassen. Statt eines politischen Thesenromans mit erhobenem Zeigefinger präsentiert Schentke ein stilles, nachdenkliches Werk mit drei heimatlosen, einsamen Protagonisten. So heißt es aus Dileks Mund an einer Stelle: »Meine Bleibe ist kein Zuhause. Dieses Land (die Türkei) war schon immer kaputt und es war schon immer gefährlich.«
Unter Erdogan (er bleibt in »Kangal« namenlos, sondern firmiert nur als »der, der keinen Namen braucht«), dem der Putsch von 2016 willkommenen Anlass zum Umbau der Türkei in eine Quasidiktatur ohne Pressefreiheit und unabhängige Justiz bot, wird politischer Widerstand jeglicher Art brutal unterdrückt. Niemand soll sich zu irgendeinem Zeitpunkt noch sicher fühlen.
Angst und Denunziantentum greifen um sich. Dilek und ihr Freund Tekin schweben als kritische »Netzaktivisten« in ständiger Gefahr, verhaftet zu werden.
Lakonisch, ohne jedes Pathos lässt Schentke Dilek als Erste zu Wort kommen, die sich vorübergehend nach Deutschland absetzt und ihre seit Kindertagen dort lebende Cousine Ayla besucht. Diese hat sich in Almanyia nie heimisch gefühlt. Ihr türkischer Verlobter schlägt sie; die Eltern verlangen von ihr Gehorsam.
Die Kinderjahre in der Türkei verklärt Ayla. Ihr Leben findet in einer Art Niemandsland zwischen einst und jetzt statt.
Für Dilek, die politische Aktivistin, ist zum einen Aylas Naivität irritierend. Daneben bleibt ihr unverständlich, warum von den wahlberechtigten Türken in Deutschland zwei Drittel für den »Namenlosen« stimmen. Woraus speist sich die Sehnsucht der in einem freien Land Lebenden nach einer Heimat, die immer mehr zum großen Gefängnis wird - zu schweigen von der um sich greifenden Armut?
Dileks Freund und politischer Weggefährte Tekin bleibt in der Türkei und scheint auf den ersten Blick der geradlinigste Charakter der drei Figuren.
Dass sie ihn nicht in ihren Fluchtplan eingeweiht hat, soll seine Sicherheit nicht gefährden, zeugt aber letztlich davon, dass die Beziehung der beiden nicht tief geht.
Im Klosterbau liest Schentke nur wenige Passagen ihres Werks, um nicht allzu viel vom Inhalt zu verraten. Stattdessen beantwortet sie Fragen aus dem Publikum, ihr Buch und die aktuelle Lage in der Türkei betreffend. Sie spricht so wie sie schreibt: Nachdenklich, still, differenziert, bedächtig formulierend. Es ist wohltuend, dieser jungen Frau zu lauschen, die ein großes Werk, dem noch weitere dieser Art folgen mögen, vorgelegt hat.