Eine vernichtende Abrechnung

Friedberg (gk). Wohl kaum jemand der am vergangenen Samstagnachmittag im Albert-Stohr-Haus Erschienenen dürfte erwartet haben, welch großartig-verstörende Aufführung in den kommenden zweieinhalb Stunden ihn dort erwarten würde. Das Team des »Helden-Theaters« lieferte mit seiner kongenialen Darbietung von Stefan Altherrs »Alice im Anderland« (frei nach Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«) eine schauspielerische Glanzleistung ab, die mit minutenlangem Applaus honoriert wurde.
Während Carrolls kleine Alice in einem Traumland von skurrilen Gestalten bedrängt wird und jedes Gefühl für Raum und Zeit sowie die eigene Identität verliert, findet sich Altherrs Alice (Svenja Illenberger) mit ihrer Grinsekatze (Claudia Lieb) als einer Art besserem Ich nach einem Brand im elterlichen Haus in einer psychiatrischen Klinik wieder.
Gefangen im Spinnennetz
Geleitet wird die Einrichtung von Dr. Stein (Burkhard Struve), dem langjährigen Klinikarzt. Sein junger Stellvertreter ist Dr. Franken (Ralf Stößer), der frischen Wind in die Anstalt bringen will. Konkret: Er lehnt die traditionelle »Pillenmedizin« (auf die der Chef - resistent gegen jeden Reformversuch - schwört) ab und will sie u. a. durch gesprächstherapeutische Ansätze ersetzen.
Leider erweist er sich dabei als weltfremder Idealist, wie es von einem Anfänger auch kaum anders zu erwarten ist. Stößer und Struve verkörpern die beiden konträren Gestalten äußerst glaubhaft.
In dem alptraumhaften, gefängnisartigen Ambiente tummeln sich - bewacht von »Pflegern« wie dem finsteren »Herzbuben« (Rudolph Weber) und seiner Vorgesetzten, die als gefürchtete »Herzkönigin« (Simela Tamay) ihr nächtliches Schreckensregiment führt - wie in einem gruseligen Panoptikum Patienten, die wehrlos den Prügeleien des »Herzbuben« ausgeliefert sind.
Dessen manifeste und die zynisch-ignorante indirekte Gewalt des Dr. Stein sind wie ein Spinnennetz, in dem die Patienten gefangen sind und bleiben.
Da ist die Herzogin (Ingrid Hamer), die ihr Kind getötet hat, um es von nun an in Gestalt eines Kissens vor jeder Unbill bewahren zu können. Da ist der Hutmacher (Julia Wynohradnik), der in einer Art Wiederholungszwang dazu verdammt ist, seine Kriegstraumata immer wieder nachzuerleben.
Wynohradniks erster großer Auftritt vor der Pause markiert einen der Höhepunkte in dem beklemmenden Stück. Welch seelische Verwüstungen Kriege jeglicher Art neben Tod und Zerstörung hinterlassen, erlebt der/die Zuschauer/in abends am Fernseher aus sicherer Distanz.
Ausgerechnet das fragile, auf Schritt und Tritt von panischen Ängsten gefolterte Mädchen (Rebekka Radgen) wird zum Opfer einer Elektroschock-»Therapie«, die - einer Hinrichtung gleich - als Film eingeblendet wird.
Niemand der anderen Insassen - auch nicht die einstmals so robuste Alice - ist mehr imstand, diesem Wesen zu Hilfe zu kommen. Diese zutiefst erschütternde Szene zählt zu den Tiefpunkten der Handlung, die von den »Helden« in einen dramatischen Höhepunkt verwandelt wird.
Die große Kunst der Akteure besteht nicht zuletzt in ihrem »passgenauen« Zusammenspiel. Niemand agiert für sich - am ehesten vielleicht noch der Klinikleiter.
Aber vergessen wir nicht die robuste Alice. Auch sie gerät - trotz verzweifelter Beschwörungen ihrer Grinsekatze - immer tiefer in den Sumpf dieser Hölle auf Erden, indem sie zunehmend abhängig von den »kleinen blauen Pillen« wird. Ein verlorenes Schachduell mit der fiesen »Herzkönigin« hat symbolischen Charakter und steht für ihren Niedergang. Sie wäre die einzige gewesen, die der »Angsthäsin« hätte helfen können.
Kongeniale Dramatisierung
Dass sie den ganzen Laden zum schlechten Schluss in Flammen aufgehen lässt: Ist das eine Befreiung? Oder ein Zeichen völliger Ohnmacht?
Für ihre kongeniale Dramatisierung der anspruchsvollen Vorlage gebührt den »Helden« (zu denen auch Manuela Schmid und Barbara Wilkom-Dingeldey sowie Dominik Neeb gehören) höchste Anerkennung.

