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Friedberg: Das Eigene und das Fremde - Andreas Maier präsentiert neuen Roman »Die Heimat«

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Von: Gerhard Kollmer

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Autor Andreas Maier erzählt in seinem neuen Roman »Die Heimat« heiter, ironisch und mit Tiefgang vom Provinzalltag. Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren. © Gerhard Kollmer

Andreas Maier hat am Dienstag in Friedberg seinen neuen Roman »Die Heimat« vorgestellt. Darin geht es um das Friedberg zu Beginn der 1970er Jahre.

Friedberg (gk). »Das Wort ›Heimat‹ habe ich in meiner Jugend selten gehört.« Mit diesem Satz eröffnet Andreas Maier am Dienstagabend im Hauptgebäude der Ovag die Vorstellung seines neuen Romans aus dem Zyklus »Umgehungsstraße«. Die Erwartungen des Auditoriums enttäuschte er nicht - wie der langanhaltende Beifall nach einer guten Stunde Lesung bewies.

Friedberg zu Beginn der 1970er Jahre: Die vom Krieg weitgehend verschont gebliebenen Einheimischen führen bis in die frühen 60er Jahre hinein ein Leben in gewohnter Beschaulichkeit. Die sogenannte »Stunde Null«, den echten Neuanfang nach Ende der Barbarei, hat es - das gilt auch für die meisten anderen Provinzstädte der Bundesrepublik - nicht gegeben. Statt Aufarbeitung beherrscht Verdrängung der monströsen Vergangenheit die Szene.

»Die Heimat« in Friedberg: »Fremd war alles, was nicht von hier war«

Diese beginnt sich seit Mitte der 60er zu wandeln. Der 1967 geborene Andreas erlebt diesen Wandel als Volksschüler und späterer Gymnasiast. Mit wachem Blick registriert er Veränderungen, wie beispielsweise die wachsende Zahl der italienischen »Gastarbeiter« mit Eisdielen und Pizzerien im Gefolge. Alteingesessene warnen vor möglicher Vergiftung nach dem Verzehr der exotischen Speisen. Deutschtümelnde Altnazis von der NPD schwätzen von »Überfremdung« - vor allem durch die muslimischen Osmanen als Feinde des christlichen Abendlands (wie sie von Schwester Adelheid im katholischen Religionsunterricht tituliert werden).

Herumziehende »Zigeuner«, »Landstreicher« und anderes »fahrendes Volk« werden in einer Mischung aus Faszination und Abscheu registriert. »Fremd war alles, was nicht von hier war«: Maier zeichnet - wie man es von ihm kennt - ein ironisches Bild der »grenzenlosen Langeweile«, die bis zum geballten Auftreten der »Fremden« in der Kreisstadt herrscht. Dies alles ist »Heimat« - ohne dass der schillernde Begriff auch nur einmal genannt wird.

»Die Heimat« in Friedberg: Religionsunterricht als bluttriefende Schwelgerei

Sein Porträt Schwester Adelheids, die den katholischen Religionsunterricht zu einer bluttriefenden Schwelgerei in den Martern »unseres Herrn Jesus Christus« verkommen lässt, ist ein Kabinettstück, bei dessen Anhören das Blut in den Adern gefriert. Welch’ verheerende Wirkung solche perverse Leidensmystik in empfindsamen jungen Seelen hinterlassen hat, kann man nur erahnen. Die den millionenfachen Mord am europäischen Judentum in Einzelschicksalen dokumentierende US-amerikanische TV-Serie »Holocaust« löst in der Kreisstadt ein »mentales Erdbeben« aus. Was 30 Jahre lang beschwiegen oder bestenfalls in hohlen Sonntagsreden beschworen wurde, wird jetzt frei Haus in jedes Wohnzimmer geliefert - vorausgesetzt der Fernseher ist an und es laufen keine »Heimatfilme« auf anderen Programmen.

Die Jugend handhabt das einschlägige Nazivokabular ganz unbefangen. So wird der Gegner bei den »Huckepack-Kämpfen« auf dem Schulhof beispielsweise »Dreckiger Jude, du wirst vergast« tituliert.

»Die Heimat« in Friedberg: Das »Wörterbuch des Unmenschen«

Völlig emotionslose Schilderungen wie über solche und andere jugendlichen Anleihen aus dem »Wörterbuch des Unmenschen« verleihen Maiers ansonsten in heiter-ironischem parlando erzählten Provinzalltag den nötigen Tiefgang.

Im zweiten Teil seiner Lesung geht er gnadenlos mit der »Erlebnispädagogik« im Französischunterricht ins Gericht. Was im Zuge der Schulreformen der 1970er gegen die Vorherrschaft des »Frontalunterrichts« aufgeboten wird, kommt bei dem Autor schlecht weg: Die Schülerinnen und Schüler erhalten französische Namen und plaudern über mehr oder weniger banale Dinge - immer noch besser als das Gehabte. Nicht so bei Andreas Maier - des Lachens im Auditorium ist schier kein Ende.

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