Friedberger Schriftsteller: »Heimat ist etwas äußerst Labiles«

»Heimat« heißt der neue Roman des Friedberger Schriftstellers Andreas Maier. Das neunte Buch seiner literarischen »Ortsumgehung« erscheint am 13. März.
Der neue Roman ist Edgar Reitz gewidmet, dem Regisseur der »Heimat«-Trilogie, die im deutschen Film eine Ausnahmestellung einnimmt. Was hat Edgar Reitz’ »Heimat« mit dem Begriff gemacht?
Edgar Reitz hat ihn damals aus einer Ecke herausgeholt und ihn für einige Zeit öffentlich tauglich gemacht. Da konnte ich gut mitgehen. Den Begriff hat er von seiner schlimmen Konnotation natürlich nicht endgültig lösen können. Das ist wohl auch gut so.
Von Reitz stammt der Satz: »Heimat ist etwas Verlorenes, hat mit Erinnerungen zu tun ... und ist etwas, was man als Erwachsener immer auf eine sehnsüchtige Weise sucht.« Sind deine Romane ein Ausdruck dieser Sehnsucht?
Nicht nur. Schau dir die Serie »Heimat« an, da geht es auch bei Reitz natürlich um die Landschaft, die Atmosphäre, den Himmelstrich, aber auch um die Familie, die frühen Freunde, die zufälligen Begegnungen. Und es geht um Aufbruch, um Wegkommen. Bei uns an der Schule waren ja nicht nur Wetterauer Jungs und Mädchen. Eine unserer Klassenschönheiten war Ägypterin. Es gibt ja auch die Sehnsucht in die Ferne.
Deine Romane zählen neben jenen von Peter Kur-zeck und Arnold Stadler zur neuen deutschen Heimatliteratur. Was macht diese Bücher aus?
Echt? »Neue deutsche Heimatliteratur«? Das klingt ja wie »Neue Deutsche Härte«. Damit sind Bands wie Rammstein gemeint. Ich sehe den gemeinsamen Punkt zwischen Stadler, Kurzeck und mir, nun ja, vor allem darin, dass wir alle den Mut hatten, unsere Bücher nicht in Berlin oder New York spielen zu lassen. Und bedenke, Kurzeck war ein Flüchtlingskind, ich komme auch nur zur Hälfte von hier, ich bin zum anderen Teil Frankfurter und Schwabe... Also könnte man vielleicht auch sagen: Aufgewachsenheit. Unsere Heimat ist vielleicht nur oder gerade unsere Aufgewachsenheit und damit etwas äußerst Zufälliges und Labiles. Viele Friedberger in meiner Jugend waren viel mehr Friedberger als ich.
Die Arbeit am Ortsumgehungszyklus begann 2009. Der Anstoß war: Was geschieht mit meiner Heimat? Da klingt Sorge mit. Sorge um die Heimat oder Sorge um das, was die permanente Umwandlung der Heimat mit einem selbst macht?
Der Anstoß war eher der Gedanke, etwas Größeres zu machen und nicht nur wieder einen einzelnen Roman. Das Wort »Ortsumgehung« fiel mir ein, als die Bauarbeiten losgingen, ich hielt das für einen guten Titel. Was mit meiner »Heimat« geschieht, war mir damals völlig egal. Mir lag eher im Sinn, was mit Friedberg, Ockstadt, Wöllstadt und so weiter geschieht.
Heimat macht sich an Menschen, Orten und Geschehnissen fest. Einige werden im Buch geschildert. Welche Orte sind dir in Friedberg und Bad Nauheim die liebsten und was verbindest du mit ihnen?
Das kann ich nicht alles schildern. Das ist ein ganzes Universum von der alten »Schillerlinde« über den Chor der Stadtkirche bis zu dem begehbaren (und jetzt verschandelten) Gradierbau I in Bad Nauheim, dann das unglaubliche Gewölbe in der Trinkkuranlage, überhaupt der Bad Nauheimer Jugendstil, mythische Orte für mich als Kind damals. Der Alicebrunnen, der übrigens auch im neuen Buch Alicebrunnen heißen wird, denn bei uns hieß er immer so. (Offiziell heißt er nach den Stiftern »Schuckhardtbrunnen«, d. Red.) Oder der Frauenwald. Jahrelang habe ich dort Kastanien gesammelt. Karl Harths »Dunkel«. Die alte Friedberger Stadtbibliothek. Ich könnte endlos weitermachen. Die plätschernde Usa, mein Lebensgeräusch. Seit einigen Jahren das »Licher Eck«. Die Bindernagelsche Buchhandlung.
Das Komische entsteht oft aus dem Schrecklichen, etwa in jener Szene des Buchs, in der die Ordensschwester im Religionsunterricht den Kindern den Suizid nahelegt, sollten sie jemals gezwungen sein, ihrem Glauben abzuschwören. Was macht das aus einem Kind?
Das kann ich ganz einfach beantworten. Es hat mit uns nichts gemacht. Das war schon damals zu absurd und zu unglaubwürdig. Wir haben, wenn auch erst Grundschüler, schon genug Abstraktionsvermögen gehabt. Das war nur grotesk.
Im Roman ziehen 70er, 80er, 90er und Nullerjahre vorbei, von der RAF bis zur Maueröffnung wird deutsche Geschichte nicht erzählt, aber erlebt. An einer Stelle des Buchs heißt es, es gehe nicht um eine Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern um eine Reproduktion. Kannst du das erläutern?
Im Buch heißt es: Die Nazis hatten vollen Erfolg. Die wollten alles Jüdische aus Friedberg weghaben, was sie ja bekanntlich im September 1942 erreicht hatten. Jahrzehnte später schreibe ich als Kind dieser Stadt eine »Ortsumgehung«, und wer kommt darin mindestens sieben Bücher nicht vor, ohne dass ich das überhaupt merke? Das nenne ich Reproduktion.
Diese Leerstelle zieht sich wie ein heimlicher Leitfaden durch das gesamte Buch: Es gab über Jahrzehnte hinweg keine Juden in Friedberg und auch keine Erinnerung an sie. Was macht dieses Schweigen aus Menschen, die sich nicht erinnern wollen?
Noch ich habe als Kind gelernt, dass man darüber nicht redet. Das reicht also mindestens bis in die Siebziger. Ich kann nur sagen, was es mit mir macht. Es gab ein gewisses böses Erwachen, und dann schaust du dir eben an, wie sogar du selbst noch an dem ganzen Geschehen retrograd beteiligt bist. Das betrifft aber in erster Linie mich selbst. Und gehört eben zu meiner »Heimat« dazu.
Andreas Maier: »Heimat«
Aus dem Klappentext: »Deutschland, Anfang der Siebzigerjahre: ein Land voller Angst vor allem Fremden. Der einzige Italiener an der Schule wirkt wie ein außerirdisches Wesen. In den Achtzigern sind es die Türken, die zum ersten Mal die Tische vor die Wirtschaft stellen. Während die Wetterauer den ersten Döner als Widerstandsnahrung feiern, erobert der lange verschwundene Hitler den öffentlichen Raum in Funk und Fernsehen. In den Neunzigern träumt der Erzähler seinen Traum vom Wetterauer Land. ... Das Haus der Großmutter wird als musealer Ort re- konstruiert, während im Ort wenigstens der Grundriss der 1938 niedergebrannten Synagoge wiederhergestellt wird. Aber noch im neuen Jahrtausend will niemand vom früheren Leben in der Heimat wissen, als es die noch gab, die es seit ihrer Deportation nicht mehr gab...«
Andreas Maier: Heimat. Roman, Suhrkamp Verlag 2023, 245 Seiten, 22 Euro; erscheint am 13. März