In der Wetterau ist das »Mandelbäuchlein« fast verstummt

Die Mandoline ist das »Instrument des Jahres 2023«. Wird es noch gespielt? Die Musikschulen haben es nicht im Programm, und das letzte Mandolinenorchester der Wetterau wurde gerade aufgelöst.
Der Klang ist einzigartig: Jede der vier Saiten einer Mandoline ist doppelt vorhanden; zupft man mit dem Plektrum schnell auf und nieder, entsteht das typische Tremolo, das man aus italienischen Filmen kennt, wenn ein Neapolitaner mit seinem bauchigen Instrument abends an der Mole sitzt und traurige Lieder spielt. Bei uns war es Peter Alexander, der über »Mandolinen und Mondschein« sang.
Das ist lange her. Damals, Ende der 1950er-Jahre, gab es überall in Deutschland Mandolinenorchester. Auch in der Wetterau. Der Ossenheimer Mandolinenclub »Maiengrün« besteht sogar seit 1921. »Wir hätten vor zwei Jahren das 100-jährige Bestehen feiern können«, sagt Norbert Glitzenhirn, der letzte Vorsitzende des Vereins. Dazu kam es nicht mehr. Ende 2019 legte der Dirigent sein Amt nieder, Corona sorgte dann für das abrupte Ende. Das sei »sehr bedauerlich«, sagt Glitzenhirn, zumal die Musikerinnen und Musiker stets viel Lob und Anerkennung für ihr Spiel erhielten. Ohne den Mandolinenclub »Maiengrün« waren viele Festveranstaltungen in Ossenheim über Jahre nicht denkbar. Aber das ist Geschichte.
Glitzenhirn und seine Frau Inge, die ebenfalls im Mandolinenclub aktiv waren, kramen Fotos und Erinnerungen an Auftritte hervor. Der Club ging aus dem 1919 gegründeten Geselligkeitsverein »Humor« hervor; nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges hatten solche Vereine großen Zuspruch. Während des Zweiten Weltkriegs ruhte die Vereinstätigkeit, danach folgte ein weiterer Mandolinen-Boom: Viele Spieler erinnerten sich an ihre Zeit in der Wandervogelbewegung, die »Geige des kleinen Mannes« war als leicht zu transportierendes Instrument gefragt.
Mandolinengruppen mit 200 Spielern
Willi Wenzel baute ab 1950 in Bruchenbrücken eine Mandolinengruppe auf. Mit goßem Erfolg: Bis 1962 zählte die von ihm initiierte Mandolinen- und Wandergruppe des Turngaus Wetterau-Vogelsberg über 200 Spielerinnen und Spieler. Es entstanden Mandolinengruppen in Fauerbach, Münzenberg, Gambach, Wolferborn und Kefenrod. Doch wie das Plektrum beim Tromolo auf und ab fährt, so erging es auch diesen Gruppen. Viele stellten den Spielbetrieb ein. In den 1990er-Jahren folgte ein Revival, die Ossenheimer taten sich mit den Gambachern zusammen und bildeten eine Spielgruppe. »Wir haben Volkslieder, aber auch klassische Literatur gespielt«, erzählt Inge Glitzenhirn. Sie und ihr Mann haben schon als Kind das Mandolinenspiel erlernt, wie viele andere in ihrem Ort auch. Jetzt dürfte Ossenheim eines der Dörfer mit der größten Mandolinendichte weit und breit sein - nur dass viele Instrumente auf den Dachböden verstauben.
»Der Lebensmittelhändler Knihs hat die Instrumente damals in der Tschechoslowakei oder in der DDR günstig besorgt«, erinnert sich Norbert Glitzenhirn. Nicht jeder konnte sich ein westdeutsches Fabrikat leisten. Warum Mandolinen so beliebt waren? »Wegen des Klanges«, sagt Glitzenhirn. Der ist einzigartig. »Wir hatten viele Anfragen für Auftritte, ich kenne sämtliche Seniorenheime in der Wetterau«, lacht Glitzenhirn. In Innenräumen seien Mandolinenklänge einfach angenehmer als laute Blasmusik.
Ein Höhepunkt im Vereinsleben waren die Weihnachtskonzerte in der kleinen Ossenheimer Kirche. Glitzenhirn erarbeitete für jeden Auftritt ein Programm, stets erzählte er auch Anekdoten, trug Gedichte oder »Gedanken über das Wörtchen ›ebbes‹« vor oder gab Erläuterungen zu den einzelnen Stücken. Die Musikauswahl war breit gefächert, reichte von Cat Stevens »Morning has broken« bis zu »Kein schöner Land« und »Wohlauf in Gottes schöne Welt«. Das Ehepaar Glitzenhirn, beide 81, aber topfit, denkt gerne an die Zeit zurück. Norbert Glitzenhirn erlitt Anfang 2020 einen Schlaganfall. Es dürfte seiner guten Kondition zu verdanken sein, dass man ihm das nicht anmerkt. Und dass er sogar wieder Mandoline spielen kann. Denn das haben die Glitzenhirns und ihre Freunde nicht aufgegeben. Einmal in der Woche trifft sich ein kleiner Kreis in Kefenrod, um zu musizieren. Und zuhause, im Duett? Sie spielte im Orchester stets die zweite Stimme, er die erste, das passt doch! »Nein«, sagt Inge Glitzenhirn und muss herzlich lachen: »Das passt nicht. Wir harmonieren nicht sehr gut.«
Das Instrument des Jahres 2023
Die Landesmusikräte haben die Mandoline zum »Instrument des Jahres 2023« auserkoren. Das Instrument mit dem charakteristischem Mandelbäuchlein stammt aus Italien, seine bekannteste Form kommt aus Neapel. Die Tremolo-Spielweise der Mandoline erzeugt einen feinen, schwebenden, sinnlichen Ton. Die »Geige des Arbeiters« war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Arbeiter- und Jugendbewegung beliebt. Es bildeten sich Mandolinenorchester (die »Sinfonieorchester des kleinen Mannes und der kleinen Frau«) mit Mandoline, Gitarre, gezupftem Kontrabass und Mandola, der etwas größeren Variante der Mandoline. Auch in der US-amerikanischen Folk- und Bluesgrass-Musik ist die Mandoline (in ihrer flachen Form) ein wichtiges Instrument. Virtuosen wie der US-Amerikaner Chris Thile (Punch Brothers) spielen nicht nur traditionelle Musik. Thile hat etwa Johann Sebastian Bachs Violinen-Sonaten und -Partiten für Solo-Mandoline arrangiert; in Youtube sind viele seiner Aufnahmen abrufbar. Wie Kevin Burg, Leiter der Musikschule Friedberg, bestätigt, gibt es an den Musikschulen derzeit keine Nachfrage nach Mandolinen-Unterricht. »Ich hätte bestimmt einen Gitarrenlehrer mit der entsprechenden Expertise an der Hand. Nur: Es gibt keine Nachfrage nach Mandolinenunterricht.« Bei Klavier, Gitarre und Schlagzeug sei das definitiv anders. »In der modernen Musik ist die Mandoline nicht gefragt, leider.« Das betreffe aber auch andere Instrumente. »Wer spielt heute noch Laute?«
